Wer ist der Souverän?

Demokratie in Corona-Zeiten: Das Parlament muss mitreden

Wolfgang Merkel17. April 2020
Bundestagssitzung zum Corona-Hilfspaket: Das Parlament muss wieder mitreden dürfen, fordert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
Bundestagssitzung zum Corona-Hilfspaket: Das Parlament muss wieder mitreden dürfen, fordert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
Auch unsere Demokratie ist in Corona-Zeiten nicht vor einer Erosion gefeit. Es ist höchste Zeit, das Parlament wieder mitreden zu lassen. Denn Zustimmung in Umfragen ersetzt keine demokratische Legitimation.

Wer ist der Souverän? Niemand hat diese Frage bündiger beantwortet als der ebenso brillante wie umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“ schreibt er 1922 („Politische Theologie“). Schmitt nimmt unverkennbar Anleihen bei seinem großen Lehrmeister Thomas Hobbes. In Hobbes Leviathan (1655) gilt der überragende Imperativ, Bürgerkrieg, den Kampf aller gegen alle, zu verhindern. Machterhaltung, innerer Frieden und Legitimation fließen hier zusammen.

Nun droht in Europa und der demokratischen Welt kein Bürgerkrieg, auch wenn der französische Staatspräsident sich einer martialischen Metaphorik bedient: „Nous sommes en guerre!“. Krieg hat schon immer die staatliche Exekutive gestärkt und insbesondere ihre Präsidenten mit besonderen Vollmachten gegenüber den Regierten ausgestattet.

Regierung ist „demokratischer Akteur dritten Grades“

Für Demokratien gilt: Das Volk ist der Souverän.  Allein über die Legitimation von Wahlen wird die legislative Souveränität auf das Parlament übertragen. Das Parlament, der Souverän zweiten Grades, wählt die Exekutive. Durch zwei Delegationsstufen gebrochen haben demokratische Regierungen in parlamentarischen Regimen nur eine abgeleitete Souveränität. Demokratietheoretisch könnte man die Regierung als einen demokratischen Akteur dritten Grades bezeichnen. Dies gilt für den politischen Alltag der Routinen und zeitaufwendigen Entscheidungsverfahren. Für den Krieg (Macron), die Pandemie (WHO) oder die „Katastrophe“ (Söder) gilt dies nicht mehr. Die Stunde der Exekutive schlägt. Der demokratische Akteur dritten Grades übernimmt das Staatsruder. Ist das verfassungsrechtlich legal und demokratietheoretisch legitim?

Insbesondere geht es um die fundamentale Frage, ob die Bundesregierung bzw. die Länderregierungen über solch fundamentale Einschränkungen der Grundrechte wie der Versammlungs- und Religionsfreiheit oder Freizügigkeit verfügen dürfen. Der fast unscheinbare dritte Satz in GG, Artikel 2, Abs. 2 ermöglicht eine solche Erlaubnis:

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

In der Covid-19 Pandemie ist dies das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“. Normentheoretisch ist es ein triviales Gesetz verglichen mit den Grundrechten, die es einschränkt. Je länger die Einschränkung der Grundrechte andauert, umso dünner aber wird die legale Basis. Dann bedarf es einer substantielleren, möglichst einer Verfassungsnorm, oder aber der raschen Legitimation durch das Parlament.

Umfragewerte ersetzen keine Legitimation

Dies gilt a forteriori für die demokratische Legitimitätsfrage. Die faktischen Notstandsbefugnisse für Bund wie Länder lassen sich zunächst nur mit dem Hinweis der Abwendung einer drohenden Katastrophe begründen. Es ist allerdings ein behavioralistisches Missverständnis, man könne die gegenwärtigen Maßnahmen über die in Umfragen ermittelte Zustimmung der Bevölkerung legitimieren. Damit wäre eine Reihe von autoritären Regierungsweisen zu legitimieren. Dies gilt für Putin, Orbán und Kaczinsky. Es hätte auch für das NS-Regime im Jahre 1936 gegolten. Eine volle demokratische Rechtfertigung bedarf einer doppelten Legitimation: der mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung (empirische Legitimation) und der substantiellen Legitimation der demokratischen Verfassung (normative Legitimation).

Hier kommt das Abwägungsprinzip der Verhältnismäßigkeit ins Spiel. Konkret heißt das: Die massive Einschränkung von Grundrechten müsse geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Ist sie das? Sie ist sicherlich nicht verhältnismäßig, betrachtet man nur die in Deutschland Infizierten und Toten. Gälte dies, dann hätten die Grundrechtseinschränkungen bei der Grippewelle im Winter 2017/18 mit über 25.000 Todesfällen längst verfügt werden müssen. Verhältnismäßig sind die fundamentalen Eingriffe heute nur, wenn man sie aus der Perspektive eines drohenden worst case mit zehntausenden Toten betrachtet. Dies wird von Virologen und Epidemiologen nicht ausgeschlossen. Allein aus einer solchen Katastrophenerwartung ließen sich die gegenwärtigen Notstandsmaßnahmen begründen.

Der Demokratie droht die Erosion

Allerdings kann dies nicht die Wissenschaft entscheiden. Sie verfügt zwar über eine epistemische, nicht aber über eine demokratische Legitimation. Selbst „epistemic evidence based policy making“ bedarf der Entscheidung der demokratisch legitimierten Repräsentanten. Die Exekutive allein kann das nicht über eine längere Periode hinweg sein. Denn je länger die Einschränkung von Grundrechten andauert, umso mehr muss zumindest der Souverän zweiten Grades, das Parlament, ins Spiel kommen. Geschieht das nicht, droht eine einst normengeleitete repräsentative Demokratie in nackten Dezisionismus abzugleiten. Demokratien verschwinden nach den 1970er Jahren selten mit einem bewaffneten Coup. Sie erodieren und sterben langsam. Vor solchen Erosionen ist auch die Demokratie hierzulande nicht völlig gefeit.

Dieser Artikel erschien zunächst im IPG-Journal. (c) WZB

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Kommentare

Demokratie schützen ist zentrale Herausforderung

Umfragen können niemals echte Wahlen ersetzen, oder als Ersatz für politische Argumentation erhalten. Sie sind lediglich ein Indikator für die aktuelle Stimmung, die sich auch ganz schnell ändern kann. Die Lage wird noch komplexer dadurch, dass Kanzlerin Merkel ja nicht die Absicht hat, sich einer Wiederwahl zu stellen.

Wir Deutschen wissen aus der Geschichte, wie eine Demokratie zu Grunde geht. Die Weimarer Republik ist in vielen einzelnen Etappen zerstört worden, die teilweise Jahre vor der Machtergreifung durch Hitler lagen. Die erste Republik nicht retten zu können war die dunkelste Stunde der SPD.

Der Schutz der Demokratie ist auch heute zentrale Aufgabe unserer Partei. Bedingt durch ihre Herkunft fremdelt die Kanzlerin mit der demokratischen Kultur und demokratischen Verfahren. Sie ist eine im Grunde unpolitische, ahistorische Persönlichkeit. Die SPD darf nicht zulassen, dass sie die Totengräberin unserer Republik wird.

Dieser starke Text von

Dieser starke Text von Wolfgang Merkel macht Hoffnung auf die Schlagkraft der demokratischen Grundordnung und weckt bei mir beim Namen Merkel auch wieder positive Assoziationen. Allerdings müssen Freiheit und Demokratie erkämpft und verteidigt werden. Frau Merkel hat mit ihrer entpolitisierenden Art eine merkwürdige, aber sehr effektive "Muttikratie" eingeführt, die einer Demokratie nicht würdig ist und die mündige Bürger zu kleinen Kindern macht.

Demokratie in Gefahr

Leider musste ich feststellen, daß viel Journalismus zur Zeit nur auf Sensation und Krawall gebürstet ist. Anstatt zu akzeptiern daß die Herangehensweise an Viren und Epidemien wissenschaftlich verschieden sein kann, wird versucht Gegensätze aufzubauen (Drosten - Streeck; bei Illner) und die Jouzrnall... maßt sich dann an richtig und falsch zu deklarieren (d.h. dann: umstritten). In der Wissenschaft ist generell alles umstritten und es findet eine rege Diskussion statt; Wissenschaft ist nämlich keine Religion. Absolute Wahrheit gibt es in der Wissenschaft nicht. Genauso bedenklich finde ich wenn "Journalist***" Heilmittel etc. für sofort ankündigen, das ist unseriös und mag eimem Donald Trump anstehen, aber seriöse Information ist es nicht.
Was ich von den Auslassungen des Oberjournalisten Julian Reichelt halte verbietet mir die Neti zu schreiben. Nationalistisch gefärbte Hetze ist das Wenigste was die Menschheit in dieser Virenkrise braucht.
Vergesst auch nicht die drohende Hungerkatastrophe in Ostafrika (Heuschreckenplage). Nicht erst wieder wenn tausende verhungert sind - Vorkehrungen jetzt und sofort !

ach die Medien..

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