
In Hennigsdorf bei Berlin begann der demokratische Aufbruch von 1989 später als andernorts in der DDR. Hier, in der Industriestadt mit damals 26.000 Einwohnern und zwei Großbetrieben mit zusammen rund 18.000 Beschäftigten gingen erst am 30. Oktober 1989 ein paar hundert Menschen auf die Straße. Hier gab es nicht jene kritische kulturelle Szene, oppositionelle Gruppen, die in Berlin oder Leipzig den Aufbruch bestimmten. Aber es gab eine selbstbewusste Arbeiterschaft, die der SED nie geheuer und Arbeiter, deren Kampfbereitschaft nicht erst seit dem 17. Juni 1953 legendär war.
Der Herbst 1989 war in Hennigsdorf erst der Auftakt für einen zwei Jahre dauernden Kampf um die industrielle Basis mit demokratischen Mitteln – Streikrecht, Versammlungsfreiheit, Medienzugang und Verankerung der politischen Akteure in der Arbeiterschaft. Vor der ersten Demonstration 1989 stimmten sich die evangelische und die katholische Gemeinde ab, die Versammlungsorte bereitzustellen. Drei Stunden vor dem Protestmarsch wurden die Pfarrer ins Rathaus geladen. Im Beisein des örtlichen Polizeichefs einigte man sich: Die Polizei zieht sich hinter die Gardinen des Polizeireviers zurück. Die Pfarrer fordern zur Gewaltlosigkeit auf. Nach dem Auftakt in der evangelischen Kirche um 18 Uhr zog der Demonstrationszug schweigend durch die Stadt zur katholischen Kirche.
In der dortigen Versammlung gab es keine vorbereiteten Reden, sondern eine spontane Aussprache über die Lage in der Stadt und im Land. Das Entscheidende fand am Ende statt: Auf die Bitte, Leute zu wählen, die bekannt und vertrauenswürdig waren, um die nächsten Schritte vorzubereiten, wurden aus dem Plenum Namen zugerufen und mit Beifall beschlossen. Das sogenannte „Bürgerkomitee“ war gegründet. Es sollte die „Keimzelle für die Mitwirkung engagierter Bürger sein“ und wurde die Plattform des demokratischen Aufbruchs in Hennigsdorf. Bis zu den Volkskammerwahlen organisierte es die Demos und Versammlungen und wirkte am Runden Tisch mit. Von den 20 Mitgliedern des Komitees kamen 12 aus den beiden Großbetrieben, darunter Peter Schulz und Karl-Heinz Graffenberger, die 1990 zu Betriebsräten in ihren Betrieben gewählt wurden und für deren Überleben kämpften.
Kampf um das Stahlwerk
Der Kampf um den Erhalt des Stahlwerks wurde prägend für Hennigsdorf und für die spätere Rolle der SPD in der Stadt. Das Werk wurde Mitte 1990 in eine GmbH mit 8.310 Beschäftigten umgewandelt. Eigentümer war nun die Treuhandanstalt (THA). Bis zur ersten Sitzung des Aufsichtsrates Ende Oktober 1990 mussten schon 2.500 gehen. Um den Betrieb konkurrenzfähig zu machen, legten die gewählte Geschäftsführung und der Betriebsrat ein Konzept vor. Es ging um Investitionen in Höhe von 90 Millionen DM. Doch die Treuhand spielte nicht mit, genauer: das Bonner Finanzministerium. Auf der ins Fußballstadion einberufenen Betriebsversammlung hieß es dazu: „Dann spielen wir mal 17. Juni!“, was heißen sollte: Wir marschieren nach Berlin. Die Treuhand sprach von Erpressung und gab die ersten 10 Millionen DM.
Der Kampf um das Stahlwerk war beispielhaft, weil er von einem Eigentümer-Bewusstsein der Arbeiter getragen war, mit dem die Treuhand und Bonn nicht gerechnet hatten. Als 1991 die Treuhand das Werk zum Verkauf stellte, stand in der Ausschreibung kein Wort vom Modernisierungskonzept, aber alles, was deren Privatisierungspraxis kennzeichnete: Die Bewerber konnten sich die lukrativen Teile herausschneiden, ohne Verantwortung für den Rest zu übernehmen. Daraufhin zogen 200 Stahlwerker zum Sitz der THA, die jetzt in jenem am 17. Juni besetzten Haus der Ministerien saß. Dort abgewiesen, besetzten sie 13 Tage lang das Werk.
Schließlich kam es zum Kompromiss: Die Kernstücke des Werkes wurden an einen italienischen Stahlkonzern verkauft, der heute noch knapp 1.000 Stahlwerker beschäftigt. Das „Restunternehmen“, 1.500 Betriebswohnungen, Kitas, Gewerbeflächen und mehr, blieben in öffentlicher Hand und wurden zur Basis für eine soziale Stadtentwicklung. Hennigsdorf ist keine Industriebrache geworden, auch keine schrumpfende Stadt.
Verantwortung übernehmen
Damals trug Andreas Schulz als Bürgermeister von Hennigsdorf die Verantwortung. Er gehörte von Anfang an als 29-jähriger junger Ingenieur mit seinem Vater Peter, dem späteren Betriebsratsvorsitzenden im Stahlwerk, dem Bürgerkomitee an. Er vertrat es am Runden Tisch, wurde Anfang 1990 Mitglied der SPD und im Mai 1990 für die SPD zum Bürgermeister von Hennigsdorf gewählt. Darauf angesprochen wie es dazu kam, sagte er: „Im Mai 1990 gab es die ersten Kommunalwahlen. Damals waren alle für freie Wahlen, aber wählen lassen wollten sich nicht so viele. Wir hatten das Regime zum Teufel gejagt und es brauchte Personen, die Verantwortung übernehmen. Also habe ich ja gesagt – ohne zu wissen, was auf mich zukommt.“ Bis 2018 war er Bürgermeister, wurde dreimal mit fast 70 Prozent wiedergewählt. 1993, nach den harten Kämpfen um den Industriestandort, erzielte die SPD in Hennigsdorf ihr bestes Ergebnis in der Stadt, knapp 50 Prozent, und ist bis heute mit Abstand stärkste Partei im Stadtparlament.