
Gerade hat die „Progressive Alliance“ eine Petition gestartet, in der sie internationale Impfsolidarität in der Corona-Pandemie fordert. Worum geht es Ihnen genau?
Alle Regierungen kümmern sich in erster Linie um die Corona-Situation in ihrem Land. Das ist verständlich, doch es besteht die Gefahr, dass es dadurch zu einem Impf-Nationalismus kommt. Leidtragende einer solchen Situation wären wie so oft die Länder des globalen Südens. Sie sind in dieser schwierigen Situation besonders auf die Solidarität der Stärkeren angewiesen. Mit unserer Petition fordern wird genau diese ein. Wir wollen, dass Corona-Impfstoffe als weltweites öffentliches Gut angesehen werden und nicht als ein Werkzeug der Profit-Maximierung. Für uns als Sozialdemokraten spielt die internationale Solidarität natürlich eine besondere Rolle. Aber auch allen anderen sollte klar sein, dass eine effektive Bekämpfung des Corona-Virus nur global möglich ist.
Wo sehen Sie besondere Probleme bei der Versorgung mit Impfstoffen?
Dafür muss man gar nicht weit gucken. Schon wenn wir nach Südosteuropa blicken, sieht es mit der Versorgung mit Impfstoffen düster aus. Wenn wir übers Mittelmeer nach Tunesien oder in den Libanon blicken, auch. All diese Länder sind in einer dramatischen Situation. Das ist den Europäern nicht wirklich präsent, auch wenn diese Länder nicht weit entfernt sind. Wir müssen unbedingt verhindern, dass der Wettbewerb um die Impfstoffe weiter eskaliert und die Spaltung zwischen Arm und Reich weiter zunimmt. 20 reiche Länder haben sich 75 Prozent der Impfstoffe gesichert.
Mittlerweile sind viele Hersteller auf dem Markt. Mache Regionen setzen auf Impfstoffe aus Europa und den USA, andere auf Mittel aus Russland oder China. Wie bewerten Sie das?
Das ist ein kritischer Punkt, da in einigen Fällen geostrategische Absichten mit der Lieferung von Impfstoffen verbunden werden. Europa und die USA verstehen nicht, dass ihr Handeln oder Nicht-Handeln dazu führt, dass Russland und China mit ihren Impfstoffen in die Lücke drängen und damit nicht nur medizinische, sondern auch große diplomatische und geostrategische Erfolge erzielen. Wir wissen um die chinesischen Investitionen und die Formen des chinesischen Kolonialismus im globalen Süden. Diesen Aspekt sollte die EU, die sich als globaler Akteur versteht, genauer im Blick behalten.
Wie sehen Sie das Agieren der EU in puncto Impfstoffe?
Die EU versucht, eine einheitliche Antwort zu geben. Das ist auch gut und richtig so. Trotzdem ist aus meiner Sicht das Problem des globalen Südens in Europa viel zu wenig auf der Agenda. Die globalen Ungleichheiten waren schon zu Zeiten Willy Brandts, als Vorsitzendem der Nord-Süd-Kommission, enorm und werden durch die Corona-Krise die Situation weiter verschärft.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Impffrage die soziale Frage weltweit verschärft?
Diese Gefahr ist ganz eindeutig gegeben. Die Pandemie betrifft soziökonomisch schwache Bevölkerungsschichten ungleich stärker. Viele bereits von Armut betroffene Regionen und Gruppen werden leiden besonders unter dem Virus: Sie werden häufiger krank und sind stärker von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen betroffen. Die soziale Frage ist also in der Pandemiebekämpfung sowie der Folgenbekämpfung besonders zentral. Die Europäer sollten ein deutliches Zeichen setzen und nicht nur Krümel vom Kuchen abgeben. Dafür müssen nicht nur Gelder bereitgestellt, sondern auch die Produktionskapazitäten für die Impfstoffe erhöht werden. Wir brauchen endlich eine globale Impf-Strategie. Dass es bereits bei der europäischen und der deutschen hakt, macht die Situation leider nicht einfacher.
Eine zentrale Frage ist der Umgang mit Impfstoff-Lizenzen. Wie stehen Sie dazu?
Die wichtigste Frage ist, wie wir es schaffen, möglichst viel Impfstoff herzustellen. Das kann nicht allein in Europa passieren, sondern muss vor Ort geschehen. Das kann nur gehen, wenn die Impfstoff-Lizenzen freigegeben werden – nicht im Sinne einer Enteignung, sondern gegen eine faire Bezahlung. Es darf nicht passieren, dass nur derjenige einen Zugang zu den Lizenzen hat, der das meiste Geld hat. Die Kapazitäten zur Impfstoffproduktion sind in Europa und weltweit noch lange nicht erschöpft. Wir müssen deshalb einen Rechtsrahmen schaffen, in dem alle Kapazitäten auch mobilisiert werden dürfen.
Was ist Ihre konkrete Forderung an die EU-Staaten?
Es sollte dringend die Frage geklärt werden, was mit den europäischen Laboratorien ist, also unter welchen Umständen die Lizenzen zur Herstellung des Corona-Impfstoffs freigegeben werden können. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es sich in den allermeisten Fällen um staatliche geförderte Forschungsprogramme handelt. Deshalb kann und darf es nicht sein, dass die Investitionen in die Forschung öffentlich sind, die Gewinne aber privat eingestrichen werden. Progressive Regierungen sollten deshalb keine Angst haben, die Diskussion über die Nutzung von Impfstoffen intensiv zu führen. Auch Eingriffe in das Patentrecht im Sinne des weltweiten Gemeinwohls dürfen nicht Tabu sein. Mit COVAX steht ein wichtiges Instrument bereit, das aber angesichts des Ausmaß der Pandemie noch nicht ausreichend finanziert ist. Hier muss Europa eine tragende Rolle einnehmen.
Conny Reuter ist Koordinator der „Progressive Alliance“ (PA), eines weltweiten Netzwerks von 113 sozialdemokratischen, sozialistischen und progressiven Parteien, auch der SPD.Der Gesprächspartner