Türkei

Wie das Corona-Virus die türkische Wirtschaftskrise verschärft

Kristina Karasu29. Mai 2020
Türkei in der Corona-Krise: Staatspräsident Erdoğan verspricht einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung.
Türkei in der Corona-Krise: Staatspräsident Erdoğan verspricht einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung.
Die türkische Wirtschaft kämpft mit den Folgen der Corona-Pandemie – Kursverfall, Auslandsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit verschärfen die Lage. Zugleich verspricht Präsident Erdogan seinen Bürger*innen, dass das Land gestärkt aus der Krise hervorgehen wird.

„Die Türkei sticht in allen Lebensbereichen als leuchtender Stern hervor“, schwärmte Recep Tayyip Erdogan in seiner wöchentlichen Ansprache am Donnerstagabend. „Die großen Fortschritte, die wir in der Wirtschaft gemacht haben, sind die wichtigste Quelle für Stärke und Vertrauen, um mit Zuversicht in unsere Zukunft zu blicken“, versicherte der türkische Staatspräsident.

Türkei seit zwei Jahren in der Wirtschaftskrise

Ganz so rosig blicken derzeit nicht alle Türk*innen in die Zukunft. Vor den Arbeitsämtern bilden sich täglich lange Schlangen. Viele Menschen warten noch immer auf die von Erdogan versprochenen Corona-Sozialhilfen oder Kurzarbeitsgeld, halten sich nur schwer über Wasser. Entlassungen wurden während der Corona-Zeit verboten, doch da viele Menschen schwarz arbeiteten oder schon vorher ihren Job verloren, hilft das Verbot nur begrenzt.

Schon seit zwei Jahren befindet sich die Türkei in einer Wirtschaftskrise - die Folgen bekommt sie jetzt besonders hart zu spüren. Die Arbeitslosigkeit lag schon im Februar bei 13,6 Prozent, die Inflation liegt bei knapp 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die türkische Lira verlor in den letzten Wochen gegenüber dem Dollar wieder enorm an Wert.

Hohe Auslandsschulden und Währungsverfall

Ein großes Problem ist die massive Auslandsverschuldung der Türkei. Private Unternehmen sind mit 175 Milliarden Dollar im Ausland verschuldet; der Kursverfall macht es ihnen schwer, die Kredite zu bedienen. Gleichzeitig sind die Währungsreserven der Zentralbank auf 88 Milliarden Dollar geschrumpft – sie hatte versucht, durch massive Interventionen auf dem Geldmarkt den Verfall der Lira zu stoppen.

Eine Senkung des Leitzinses sollte im April die Wirtschaft ankurbeln, bei gleichzeitiger hoher Inflation ist das aber ein heikler Schritt. Nun versucht die Regierung mit neuen Steuern auf Devisenwechsel, Goldhandel und Importe ihre Kassen wieder zu füllen.

Gesundheitssektor trotzte der Pandemie

Sind Erdogans Worte also nur Propaganda? Nicht ganz. Denn die Türkei hat trotz aller Probleme auch einige Chancen. Ihr Gesundheitssektor, in den die Regierung seit Jahren massiv investiert, konnte der Pandemie standhalten. Nun setzt man auf Gesundheitstourismus: technisch hochgerüstete, neue Privatkrankenhäuser, bestens geschulte Mediziner*innen und günstige Preise lockten schon in den letzten Jahren Menschen aus aller Welt für eine Haartransplantation, Augenlaseroperation oder künstliche Befruchtung ins Land. Erst vor einigen Tagen eröffnete Erdogan das gigantische neue „Cam und Sakura Stadtkrankenhaus“ in Istanbul, eine der größten Kliniken des Landes. An diesem Wochenende werden in Istanbul außerdem zwei Pandemie-Krankenhäuser eröffnet, die in nur 45 Tagen errichtet wurden. Auch sie sollen später den Medizin-Tourismus zur Verfügung stehen.

5000 Beatmungsgeräte wurden in den letzten Wochen in der Türkei produziert, lobte die Regierung, auch die Umstellung der Textilbranche auf die Produktion von Masken und anderer Schutzkleidung funktionierte schnell. Die große Flexibilität und Risikobereitschaft türkischer Unternehmer*innen waren da von Vorteil.

Vorreiter in der Digitalisierung

Ebenso zahlt sich in der Pandemie aus, dass die Türkei schon seit langem eine Vorreiterrolle in der Digitalisierung spielt. Fast alle Supermärkte bieten Einkäufe per App an, geliefert wird meist einige Stunden später. Bescheinigungen von Behörden, Rezepte für die Apotheke oder Termine im Krankenhaus bekommt man über das Portal „e-devlet“, übersetzte E-Staat. Das hat auch damit zu tun, dass man beim Thema Datenschutz wenig zimperlich ist. Nun will die Regierung mit umfangreichen Förderungen die Digitalisierung des Landes weiter vorantreiben.

Zugleich hoffen türkische Politiker*innen wie Unternehmer*innen, dass sich der internationale Trend der de-Globalisierung für die Türkei auszahlt. Produktionen, die Europa zuvor in China oder Indien in Auftrag gegeben hatte, könnten in die Türkei verlegt werden. Der Kursverfall der türkischen Lira ist in diesem Fall ein Vorteil, weil ausländische Unternehmen so sehr günstig in der Türkei produzieren können. Bisher ist das aber noch Wunschdenken, schließlich sind seit Corona Produktionen weltweit zurückgegangen.

Tourismus als Motor der Wirtschaft

Große Hoffnungen ruhen auch auf dem türkischen Tourismus. Zwar hat Deutschland seine Coronabedingte Reisewarnung für die Türkei noch nicht aufgehoben. Türkische Hoteliers und Flugunternehmen hoffen jedoch, dass sich dies bald ändert. Das türkische Tourismus-Ministerium entwarf nun Hotel-Zertifikate mit 31 Bedingungen, um einen hygienischen und am besten Corona-freien Betrieb sicherzustellen. Der Tourismus ist nicht bloß ein Motor der türkischen Wirtschaft sondern auch wichtig, um Fremdwährungen ins Land zu bringen.

Die Türkei befindet sich am Scheideweg, erklärte jüngst der Vorsitzende des türkischen Unternehmerverbands TÜSIAT Simone Kaslowski: die Risiken, denen Schwellenländer derzeit ausgesetzt sind, könnten die Türkei hart treffen. Aber sie könnte auch ihre Chancen nutzen, wenn sie einige Bedingungen erfülle: „Die neuen Kriterien der neuen Welt lauten, im Wertesystem der EU als verlässliche und stabile Wirtschaft aufzutreten, bestimmte Standards für Grundrechte und Grundfreiheiten zu garantieren, einen starken Rechtsstaat zu besitzen sowie einen Fahrplan für digitale Infrastruktur und gegen den Klimawandel vorzulegen“, so Kaslowski.

Rechtsstaatlichkeit würde Wirtschaft helfen

In eine ähnliche Kerbe schlägt Ali Babacan, einst AKP- Wirtschaftsminister und EU-Chefunterhändler. Anfang März gründete er eine eigene Partei, sehr zum Unmut seines einstigen Weggefährten Erdogan. Babacan leitete die türkische Wirtschaft in ihren Boom-Jahren, war maßgeblich an dem EU-Beitrittsprozess der Türkei beteiligt. Er gilt als fleißiger, verbindlicher und weltgewandter Technokrat und verspricht eine Rückkehr zu den einstigen Werten der AKP. Die Türkei könnte sich schnell erholen, würde für Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit gesorgt, meint Babacan. Warum er jahrelang zum Abbau von beidem schwieg, dafür wird er sich rechtfertigen müssen, wenn er Erdogan ernsthaft Konkurrenz machen will.

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