Multilateralismus

Die Corona-Krise: eine Chance für progressive Politik?

Conny Reuter03. April 2020
Das Corona-Virus hat die Welt fest im Griff. Der Kampf gegen die Pandemie kann auch eine Chance für eine verbesserte internationale Zusammenarbeit sein, meint Conny Reuter.
Das Corona-Virus hat die Welt fest im Griff. Der Kampf gegen die Pandemie kann auch eine Chance für eine verbesserte internationale Zusammenarbeit sein, meint Conny Reuter.
Die Corona-Pandemie stellt die Welt auf eine harte Probe. Der Kampf gegen das Virus kann aber auch eine Chance sein für progressive Politik und eine verbesserte interrnationale Zusammenarbeit.

Zum täglichen Schrecken der Statistiken der fortschreitenden Infektion, der Zahl der Todesopfer und der exponentiellen Entwicklungen in der Corona-Krise, können die Antworten, die die Regierungen auf nationaler Ebene zu geben versuchen, die Unterstützungspakete für Arbeitsplätze und die Wirtschaft nicht die einzige politische Antwort sein. Progressive Regierungsverantwortung muss sicherlich auf den Notstand reagieren, es besteht jedoch die Notwendigkeit, über eine längere Perspektive progressive Politik zu denken.

Und wenn diese Krise einen Impuls für die – nicht nostalgische – Wiederbelebung dessen geben würde, was das Wesen der sozialdemokratischen, sozialistischen und fortschrittlichen Politik ausmacht? Lange Zeit forderten wir „die Menschen an die erste Stelle setzen“ – genau das passiert jetzt, da es bei der Notfallreaktion auf die Virusepidemie in erster Linie darum geht, Leben zu retten. Die Ansätze können von Land zu Land oder von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich sein. Verantwortungsvolle Regierungsführung muss jedoch Leben retten, und Progressive Regierungen stehen dabei an vorderster Front.

Sich nur auf Wirtschaftlichkeit zu konzentrieren, reicht nicht

Während der letzten Jahrzehnte hörten wir die Botschaft "It’s the economy, studpid" und der Fokus des politischen Mainstream Denkens und Handelns lag auf der Freisetzung von Marktpotenzial und Wachstumsraten, er vernachlässigte jedoch die Zähmung der Finanzmärkte. Dies führte dazu, die Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 mit derselben Politik zu bekämpfen, die sie verursacht hatte. Nun haben die Ziele für nachhaltige Entwicklung das Bewusstsein dafür geschärft, dass es komplexer sein wird, Menschen und Planeten zu retten.

Jetzt sehen wir, dass ein Ansatz, der sich nur auf Wirtschaftlichkeit konzentriert, nicht ausreicht und sogar gefährlich ist: Zu lange wurden Gesundheits-, Pflege- und Dienstleistungsrichtlinien unter strengen Gewinn- und Verlustansätzen überprüft. Noch vor wenigen Monaten hat die Bertelsmann-Stiftung es gewagt, eine Studie vorzulegen, in der die Schließung von 800 (!) Krankenhäusern in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, gefordert wird, weil sie angeblich wirtschaftlich nicht mehr tragbar seien.

Kurzfristigkeit und Kosteneffizienz bestimmten das Handeln

In anderen Ländern des reichen globalen Nordens ist die Situation nicht viel besser. Es reicht aus, auf die exponentiellen Sterblichkeitsraten zu schauen. Im globalen Süden haben die Reichen Zugang zu privatisierten, qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten, die Armen müssen überleben und selbst um das Wesentlichste kämpfen: den Zugang zu klarem Wasser und Nahrungsmitteln.

Im globalen Norden entdeckten Hedge- und Investmentfonds ihr Interesse an sogenannten Social Business Investitionsmodellen, da sie eine moderate, aber stabile Renditen anbieten. Zu dieser Zeit war das Grundprinzip weder das soziale Bedürfnis noch die Antizipation von Katastrophen wie Corona oder Prävention. Nur Kurzfristigkeit und Kosteneffizienz bestimmten die Regeln und das Handeln.

Wir alle sind von denen am unteren Ende der Leiter abhängig

Und nun? Wegen der Sparpolitik fehlen uns Ausrüstung, Medikamente und Pflegepersonal für hochwertige Gesundheitsdienstleistungen überall auf der Welt. Nationalstaaten konkurrieren um Labors, um Köpfe und um medizinisches Gerät. Mit dieser Krise steigt das Bewusstsein, dass wir alle von denen, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen, abhängig sind, von denen, die Waren, Lebensmittel und medizinische Behandlungen liefern, von denen, die den Transport sicherstellen, und von denen, die die Lieferketten aufrechterhalten.

Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht nur schlecht bezahlt, sondern sind auch schlecht gegen das Virus geschützt. Es ist großzügig, ihnen als „Helden“ zu applaudieren. Es wäre besser, sich auf menschenwürdige Arbeit, hochwertige Arbeitsplätze und menschenwürdige Gehälter für diejenigen zu konzentrieren, die einen wesentlichen Beitrag zum Kitt unserer Gesellschaften beitragen.

Die Ungleichkeit nimmt zu

Manchmal hören wir jetzt, dass „wir alle im selben Boot sitzen“, was nicht stimmt. Die „Gleichbehandlung“ besteht nur darin, dass dieses Virus weder den sozialen Status noch das Einkommen berücksichtigt, jedoch die Ungleichheit gleichzeit zunimmt und sich vertieft: zwischen Ländern, die über die Mittel verfügen, und solchen, die dies nicht tun, zwischen denen, die Zugang zu Gesundheits- und Pflegediensten haben, und denen, die dies tun nicht haben.

Am meisten leiden die Migranten auf der ganzen Welt, die in kein soziales oder gesundheitliches Schutzsystem integriert sind oder durch dieses geschützt werden. Die Forderung nach Solidarität ist gut, aber für Progressive sollte Solidarität nicht auf nationale Ebene eingeschränkt werden, sondern muss global gedacht werden. Die Bekämpfung der Pandemie sollte mit einer verstärkten Entwicklungs- und Kooperationspolitik einhergehen, die sich vom der klassischen Handelspolitik unterscheidet. Ein Ansatz muss darin bestehen, den ärmsten Ländern und ihrer Bevölkerung Zugang zu erschwinglicher medizinischer Behandlung zu bieten.

Ein erneuerter Multilateralismus ist möglich

Es würde mich nicht wundern, wenn wir nach dieser Krise erneut den Ruf nach Sparmaßnahmen hören würden, um die öffentlichen Haushalte zu entschulden und Defizite auszugleichen. Es ist besser, jetzt vorbereitet zu sein und über eine vorausschauende Anpassung nachzudenken. Als Progressive haben wir die politischen Elemente progressiver Politik: die Ziele für nachhaltige Entwicklung, den Sozialschutz der Internationalen Arbeitsorganisation, die Politik für soziale Investitionen in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung und öffentliche qualitative Dienstleistungen. Und wir haben Vorstellungen und Konzepte von fortschrittlicher makroökonomischer Politik und Strukturreformen.

Jede Krise bietet eine Chance, obwohl die Zahl der Todesopfer in dieser Krise einfach zu hoch ist. Die Herausforderung besteht darin, ein fortschrittliches gesellschaftliches Projekt mit einer starken staatlichen, guten und demokratisch legitimierten Regierungsführung neu zu formulieren, die das Wohlergehen und den Schutz der Bürger garantiert und den Sozial- und Wohlfahrtsstaat nicht als Kosten-, sondern als Investitionsfaktor erneuert, der als Beispiel dient für internationale Fairness und Solidarität. Dann wäre die Zeit für ein rotes Paradigma globaler, fortschrittlicher Politik und des erneuerten Multilateralismus gekommen. Auch in Zeiten des Leidens gibt es Platz für Träume und Visionen, denn wer keinen Mut zum Träumen hat, hat auch nicht die Kraft zu kämpfen!

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Kommentare

Eine Neverending Story: das

Eine Neverending Story: das Coronavirus frißt die Demokratie auf! Wer glaubt, daß es bei uns ein Zurück zur Demokratie geben wird?
https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/angst-vor-zweiter-infektion...

Corona

Die CORONA-Krise
- Erster Zwischenbericht eines potentiellen Risiko-Patienten -

Inhalt:

Nach einer Vielzahl von Versäumnissen wird ein, zumindest innerhalb Deutschlands, geordnetes Krisenmanagement langsam sichtbar

Augen zu und durch?

Erste, bestürzende bzw. beschämende Erkenntnisse

Warum mußte erst ein CORONA-Virus einschlagen, um unseren Fokus wieder auf ein vorrangig am Menschenwohl orientiertes Gesundheits- und Pflegesystem zu legen?

Viele aktuell gute und engagierte Beispiele dürfen uns nicht die Augen verschließen vor Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft, die - dank des CORONA-Virus - wieder einmal evident werden!

Pandemie schnell besiegen! Dann Fehlentwicklungen in der Gesellschaft korrigieren!

Schlussbemerkung

Trotz aller berechtigten, unsere Gesundheit betreffenden existentieller Sorgen möchte ich doch darauf hinweisen, dass die CORONA-Pandemie, was die Schwere des Krankheitsverlaufs und die Letalität anbelangt, bei weitem nicht mit einer Pest- bzw. Cholera-Seuche vergleichbar ist. Ohne falscher Fortschrittsgläubigkeit das Wort zu reden, wird auch diese Pandemie dank unserer fortgeschrittenen Medizin bald Geschichte sein.
Größere Sorgen..

Corona ...2

...
Größere Sorgen muß uns diesmal die existentielle Krise unserer Gesellschaft in Bezug auf Wirtschaft, Kultur, Bildung und Zusammenhalt machen. Dies wieder "zum Laufen" zu bringen, wird uns alle noch viel Kraft, Zeit und Geld kosten.
Doch wenn das CORONA-Virus eine gute Seite hat, dann die, uns wieder daran zu erinnern: was das wahre Leben anbelangt, so findet das statt in Städten und Gemeinden, auf Straßen und Plätzen, auf Wiesen und in Wäldern, unter lebendigen Menschen, und nicht in der virtuellen Realität im Internet, nicht in den (a-?)sozialen Medien, nicht in Film und Fernsehen.
Und noch etwas:
- schön, dass wieder auf die seriöse Wissenschaft gehört wird,
- auch schön, dass wir keine Befehlsgesellschaft mehr sind, die ohne Erklärung, Überzeugung, Hinterfragen und ohne demokratische Konsensbildung Befehlen eines Führers einfach nur unreflektiert folgt,
- und beruhigend zu sehen, dass sich letztendlich die Vernunft durchsetzt.

Dies und noch viel mehr in

https://www.freitag.de/autoren/sigismundruestig/die-corona-krise

Was Bill Gates dazu sagt: Die Wirtschaft kann man wieder aufbauen, einen verstorbenen Menschen nicht.

Neujustierung der Sicherheitspolitik

Haben Außenminister Maaß und die NATO den Schuss nicht gehört?
Was jetzt notwendig ist, ist eine Neujustierung der Sicherheitspolitik im Sinne von "der wirkliche Feind sind Pandemien", wovor z.B. Bill Gates im Rahmen seiner Bill&Melinda-Gates-Stiftung schon lange warnen und die Konsequenzen plakativ skizzieren mit "mobile Kliniken statt Atom-U-Boote, Impfstoff-Reposotorien statt Raketensysteme".

Wahnvorstellungen

Ein nettes Plädoyer für richtige Ansätze aber vollkommen unrealistisch.

Man wird - wie immer - in der selbstgemachten "Krise" Solidarität fordern und natürlich nicht vorleben und danach busines as usual.
Aktuell ist kein Ende der mit Ausrede der Grippewelle durchgezogenenn massiven (Grundrechts)beschränkungen in Sicht.

Zwar spricht man vom "Abflachen der Kurve", jedoch stets nur, wenn es darum geht, die überzogenen Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen, nie im Zusammenhang damit, die Profiteure der Zerstörung des Gesundheitswesens dazu zu zwingen, aus ihrer üppig auf Kosten der Allgemeinheit gefüllten Kasse das Gesuindheitssystem wieder auf einen zuverlässig funktionierenden Stand zu bringen.

Komisch, das so ziemlich einzige Land das keine politisch und medial gewollte und geförderte Hysterie betreibt ist Schweden, interessanterweise auch eines der sehr wenigen Länder die ihr Gesundheitssystem nicht haftungsfrei an Heuschrecken verramscht haben.

Spitze der Dreistigkeit ist ein "Gesundheitsminister" der sich im eng gepackten Rudel mit Medizinstudenten plaudernd in den Medien präsentiert während der Pöbel sich selbst einzukerkern und seine Existenz willig zu opfern hat.

Schweden

Auch die schwedische Regierung hat ihren bisherigen Kurs inzwischen geändert.

Weil die Schweden keine

Weil die Schweden keine Solidarität erfahren und allein auf weiter Flur stehen. Die Schweden werden jetzt auch von vielen Medien angegriffen, nachdem man das schwedische Alternativmodell lange Zeit totgeschwiegen hat. Und dennoch ist Schweden immer noch ein Vorbild: https://www.swp.de/panorama/Schweden-Corona-Umgang-locker-Kindergaerten-...

Keine falschen Hoffnungen machen

Im Moment sehe ich eher die Gefahr, dass Politik und Medien den gleichen Fehler machen wie in der Flüchtlingskrise. Die anfängliche solidarische Stimmung wurde damals fehlgedeutet, am Ende schlug der politische und gesellschaftliche Diskurs ganz brutal um. Auch jetzt macht es den Eindruck, dass die Politik "den Ernst der Lage" falsch einschätzt.

Ob die wissenschaftlichen Berater der Bundesregierung richtig liegen, kann und will ich nicht beurteilen. Klar ist: der politische Preis der aktuellen Lage kann sehr schlimm werden. Nach der Flüchtlingskrise zog eine rechtsextreme Partei mit mehr als 10 Prozent in den Bundestag ein.

Wir als SPD haben kaum noch Luft nach unten, und das Beispiel unserer Schwesterparteien aus Frankreich, Griechenland oder Israel vor Augen. Unsere Demokratie war schon vor der jetzigen Situation angeschlagen und verwundbar.

Deshalb kann man absolut nicht ausschließen, dass sowohl unsere Partei, als auch unsere gesamte Demokratie, diese Krise nicht überstehen. Darüber sollte man sich auch in der "Wolkenstadt", die das politische Berlin leider schon länger ist, klar werden.

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