
Ich schäme mich dafür, was in diesem Land Woche für Woche passiert. Egal, ob in Stuttgart, Kassel, Berlin oder Leipzig – in all diesen Städten demonstrieren tausende Menschen vordergründig gegen die aktuell geltenden Corona-Maßnahmen. Doch was diese Menschen tun, geht weit über das grundgesetzlich geschützte Recht auf Meinungsfreiheit hinaus. Ja, es gibt ein Recht auf Meinungsfreiheit, aber kein Recht auf Nazipropaganda. Denn auf diesen Demonstrationen hetzen Menschen gegen Regierung, Parteien und Medien, gegen eine demokratische Öffentlichkeit und Vielfalt. Sie betreiben antisemitische Propaganda und verbreiten Verschwörungsmythen.
Natürlich muss niemand „Hurra!“ rufen, wenn die Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung mal wieder verschärft werden. Niemand hat Bock auf Pandemie. Niemand findet Ausgangssperren toll. Niemand freut sich, FFP2-Masken in der Öffentlichkeit tragen und permanent Abstand halten zu müssen. Doch all das, was zur Pandemiebekämpfung notwendig ist, zu kritisieren und sich darüber aufzuregen, ist das eine. Das rechtfertigt aber niemals, mit Rechtsextremen zusammen zu demonstrieren und diesen dadurch Öffentlichkeit zu verschaffen.
Feigenblatt für rechtsextreme Propaganda
Aber es gibt doch auch diejenigen, die sich einfach Sorgen machen und deswegen zu diesen Demonstrationen gehen, mögen manche sagen. Diejenigen, die „Peace“-Flaggen oder Israel-Fahnen mit sich tragen, sich Blumen ins Haar stecken und fröhliche Tänze aufführen. Ja, genau diejenigen sind es, die es entweder aus Naivität nicht merken wollen oder es bewusst in Kauf nehmen, dass Rechtsextreme sie als Feigenblatt für die Verbreitung ihrer Propaganda missbrauchen.
Wenn ein Neonazi das Tagebuch der Anne Frank als Freiheitssymbol missbraucht und wie eine Monstranz vor sich herträgt, wenn Rechtsextreme NS-Symbole verwenden und Christian Drosten oder Karl Lauterbach in KZ-Häftlingskleidung abbilden, dann hat das nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun. Dann ist eine Grenze überschritten. Denn nein, wir erleben weder eine Merkel- noch eine Corona-Diktatur. Das am Mittwoch vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz in seiner neuesten Fassung ist auch kein Ermächtigungsgesetz, wie viele der Demonstrant*innen immer wieder zu behaupten versuchen.
Gefährliche Berichterstattung der „BILD“
Umso gefährlicher ist es, wenn ein selbst ernanntes nationales Leitmedium wie die „BILD“ in ihrer Berichterstattung von „Merkels Einsperr-Gesetz“ schreibt und die gestrige Abstimmung im Bundestag „Eine schwarze Stunde für die Freiheit“ nennt. Das ist nicht nur ziemlich absurd, sondern auch Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen. Bei der Corona-Demo in Berlin waren neben zahlreichen AfD-Politikern auch Leute wie der rechte Publizist Jürgen Elsässer, Menschen mit Reichsflaggen, Qanon-Verschwörungsanhänger*innen und Andreas Kalbitz, der zuletzt sogar der AfD zu rechts war, unterwegs.
Aufmärsche und Demonstrationen von Rechtsextremen sind in Deutschland auch nach 1945 leider keine Seltenheit. Besonders gefährlich für Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit ist jedoch, dass deren Thesen und Verschwörungsmythen inzwischen bei breiten Teilen der Bevölkerung angekommen sind. Das zeigen Untersuchungen wie die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Es zeigt aber auch ein Blick auf die jüngsten Corona-Demonstrationen. Wenn etwa der frühere Fußballprofi Thomas Berthold jüngst in Stuttgart von “großen Turbulenzen und Machtverschiebungen auf dem Globus“ schwadroniert, davon, dass wohl alles mit den Strippenziehern im US-Finanzsektor zusammenhänge, dann macht er damit jahrzehntealte antisemitische Verschwörungserzählungen massentauglich.
Antisemitische Hetze darf keine Randnotiz sein
Nicht ohne Grund werden Teile der Querdenker-Gruppierungen von den Verfassungsschutzbehörden als extremistisch eingestuft und beobachtet. Nach mehr als einem Jahr Corona-Demos mag in der öffentlichen Berichterstattung ein gewisser Gewöhnungseffekt eintreten, wenn wieder tausende Menschen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straßen gehen – in Berlin, Leipzig, Stuttgart oder anderswo. Es darf aber keine Randnotiz bleiben. Denn an rechtsextreme Hetze und Antisemitismus dürfen wir uns niemals gewöhnen.