Mit offiziell 2.915 Infizierten, mittlerweile 77 Toten und schnell steigenden Fallzahlen ist Brasilien in der Region am stärksten vom Coronavirus betroffen. Die Dunkelziffer liegt unzweifelhaft bedeutend höher. In Großstädten wie São Paulo oder Rio de Janeiro kommt das öffentliche Leben immer stärker zum Erliegen. Gleichzeitig beschreibt der Präsident Jair Bolsonaro die Folgen des Virus als lediglich kleine Grippe (gripezinha), die „Hysterie“ sei unbegründet, die ergriffenen Maßnahmen übertrieben und die Medien würden Falschmeldungen verbreiten. Eine folgenschwere Haltung für das Land, aber womöglich auch für Bolsonaros Präsidentschaft.
Bolsonaro händeschüttelnd in Menschenmengen
Auf die Gefahr des Virus hat die brasilianische Regierung zunächst sehr zögerlich reagiert. Während in den Nachbarstaaten bereits Quarantänemaßnahmen oder Einreisebeschränkungen erhoben wurden, hielt sich die Regierung zurück. Bolsonaro zeigte sich gar noch händeschüttelnd auf einer Demonstration, als sich bereits enge Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt hatten. Erst spät wurden die Landgrenzen zu den direkten Nachbarstaaten geschlossen oder die Einreise per Flugzeug aus stark vom Virus betroffenen Regionen eingeschränkt, China, Iran oder die EU gehören dazu – die USA sind hiervon ausgenommen.
Es agierten zunächst vor allem die Bundesstaaten mit graduell restriktiveren Maßnahmen. So sind mittlerweile in São Paulo Schulen und Universitäten geschlossen, genauso wie Kultureinrichtungen, Geschäfte, Restaurants, Cafés etc. Auch die Strände von Rio sind inzwischen menschenleer. Essentielle Einrichtungen in Bereichen der allgemeinen Versorgung, der Sicherheit oder der Gesundheit sind ausgenommen. Ferien für Bedienstete im Gesundheitswesen wurden gestrichen.
70 Prozent für Ausgangssperre
Ein Großteil der Bevölkerung befürwortet ein entschiedeneres Vorgehen der Regierung. Mehr als 70 Prozent der Brasilianer*innen sind für ein zumindest vorübergehendes Durchsetzen einer Ausgangssperre. Zurzeit gibt es vor allem die Empfehlung der einzelnen Gouverneure, zuhause zu bleiben. Die Aussagen Bolsonaros lassen aber daran zweifeln, dass von der Regierung tatsächlich entsprechende Signale kommen werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Im Gegenteil, Bolsonaro kritisiert die Maßnahmen der Gouverneure scharf. So würde nur die Wirtschaft ruiniert, das Virus sei ohnehin nur für alte Menschen gefährlich, warum solle man also Schulen schließen, so der Präsident. Doch Bolsonaro steht unter Druck, anhaltende Proteste, offene Abkehr von ehemals Verbündeten und aktuelle Umfrageergebnisse lassen ihn angeschlagen erscheinen. 33 Prozent der Bevölkerung bewerten sein Agieren in der Coronakrise als schlecht oder sehr schlecht. Hingegen befinden sich Gouverneure, der Gesundheitsminister sowie die von Bolsonaro verachtete Presse in einem Umfragehoch.
Dramatische wirtschaftliche Folgen befürchtet
Statt politischer Machtkämpfe wäre ein entschlossenes und restriktives Vorgehen gegen die Ausbreitung des Virus erforderlich. Das Gesundheitssystem droht dem Gesundheitsminister zufolge bereits im April zu kollabieren, vor allem im ärmeren Nordosten des Landes fehlen Kapazitäten, die Wirtschaft steht vor einer Rezession und die zahlreichen Comunidades, die Armenviertel der Großstädte, sind dem Virus praktisch schutzlos ausgeliefert.
Doch anstatt vorrangig das Virus einzudämmen, hat die Wirtschaft Priorität für die Regierung. Tatsächlich könnte sich das Virus für Brasilien wirtschaftlich verheerend auswirken. Die Zentralbank hat die Wachstumsprognose des BIP von 2,2 auf 0 Prozent für dieses Jahr korrigiert. Ein Milliardenpaket zur Stützung der Wirtschaft wurde auf den Weg gebracht. Doch die ohnehin benachteiligten Bevölkerungsschichten wurden zunächst kaum berücksichtigt. Dabei hat das Land knapp 40 Prozent informell Beschäftigte, die ohne soziale Absicherung sind. Ihnen wurden 109 Euro monatlich in Aussicht gestellt. Eine verpflichtende Quarantäne würde die benachteiligte Bevölkerung ungleich härter als andere Schichten treffen. Jede*r dritte Favela-Bewohner*in rechnet damit, bereits nach einer Woche ohne Arbeit nur noch wenige Lebensmittel kaufen zu können. Nachdem in den vergangenen Jahren bereits Sozialstandards zusammengekürzt wurden, ist die soziale Sprengkraft der Krise nun enorm.
In dieser Phase beschwört Bolsonaro einen Machtkampf herauf und ist dabei zunehmend isoliert. Das Land steht damit vor schwierigen Wochen und Monaten. Neben den unmittelbaren Auswirkungen kann das Coronavirus in Brasilien weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftliche und letztlich auch politische Folgen haben.
Erschienen am 27. März im ipg-Journal.