Armutsforscher

Christoph Butterwegge: Wie Corona die Ungleichheit in Deutschland verstärkt

Kai Doering19. September 2020
Vielen Menschen ist in den vergangenen Monaten sehr bewusst geworden, dass es eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland gibt, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
Vielen Menschen ist in den vergangenen Monaten sehr bewusst geworden, dass es eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland gibt, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
Die Corona-Pandemie verstärkt die Ungleichheit in Deutschland, sagt Armutsforscher Christoph Butterwegge. Um gegenzuhalten, braucht es aus seiner Sicht eine andere Steuerpolitik und einen „Corona-Soli“.

Es heißt, in der Corona-Pandemie zeigten sich gesellschaftliche Probleme wie in einem Brennglas. Gilt das auch für die Ungleichheit in Deutschland?

Ja, ganz besonders deutlich. Die sozioökonomische Ungleichheit ist durch die Covid-19-Pandemie so klar hervorgetreten, dass wie selten zuvor über dieses Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der Menschheit insgesamt diskutiert wird. Vielen Menschen ist in den vergangenen Monaten sehr bewusst geworden, dass es eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland gibt. Gleichzeitig haben sich die sozialen Gegensätze während des Lockdowns und des wirtschaftlichen Einbruchs weiter verschärft.

Wie äußert sich das?

Auf drei Ebenen. Da sind erstens die Auswirkungen der Pandemie selbst. Vor dem Virus sind zwar alle gleich, das höchste Infektionsrisiko haben aber die immun- und finanzschwächsten Mitglieder der Gesellschaft, also Menschen mit schlechten Arbeitsbedingungen und/oder hygienisch bedenklichen Wohnverhältnissen. Die zweite Ebene ist die wirtschaftliche. Hier geht es um die Folgen des Lockdowns und anderer Schutzmaßnahmen. Denn es gibt eine soziale Polarisierung zwischen Menschen, die wegen Erwerbsausfällen, Geschäftsaufgaben oder Kurzarbeit finanzielle Verluste erlitten haben, und denen, die ein Unternehmen oder einen Arbeitsplatz haben, dem die Rezession nichts anhaben kann. Manche Branchen wie der Online-Handel, Logistikfirmen und Lieferdienste haben ihre Gewinne in der Krise ja sogar gesteigert. Es machte einen großen Unterschied, ob man ein Reisebüro oder einen Baumarkt besaß, der während des Lockdowns nicht geschlossen werden musste.

Drittens bleiben die staatlichen Hilfspakete, Rettungsschirme  und Fördermaßnahmen nicht ohne Einfluss auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Viele davon waren nötig, kommen aber vor allem großen Unternehmen zugute, obwohl diese gleichzeitig zum Teil exorbitante Dividenden an ihre Aktionäre ausschütteten. Das passt aus meiner Sicht nicht recht zusammen. Dänemark und Frankreich haben solche Firmen von Überbrückungshilfen wie dem Kurzarbeitergeld deshalb ausgeschlossen. Die am meisten Bedürftigen wurden von den Hilfsmaßnahmen viel zu wenig bedacht. Was die Neoliberalen als „Leistungsgerechtigkeit“ bezeichnen, firmierte offenbar als staatliches Vergabeprinzip.

Christoph Butterwegge

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat kürzlich ermittelt, dass die reichsten zehn Prozent der Deutschen 67 Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur auf rund ein Prozent kommt. Woran liegt das?

Das private, insbesondere das betriebliche Vermögen in Deutschland konzentriert sich – fast so stark wie in den USA – in nur wenigen Händen. Und sogar unter den Reichen selbst ballt sich der Großteil des Vermögens bei den Hyperreichen – wie ich sie nenne – zusammen. Die sozioökonomische Ungleichheit liegt darin begründet, dass einer kleinen Minderheit im Kapitalismus die Firmen, Versicherungen und Banken gehören, wohingegen die große Mehrheit der Bevölkerung gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Das gelingt zwar manchen Lohnabhängigen gut, weil sie hochqualifiziert und gesund sind. Anderen gelingt es aber weniger gut, vielleicht deshalb, weil sie in einer Region mit einem angespannten Arbeitsmarkt wohnen oder psychische Beeinträchtigungen haben.

In der Pandemie gab es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Beschäftigten, die sich daran festmachte, wer die Möglichkeit hatte, im Homeoffice zu arbeiten, und wer nicht. Unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus hat sich die Ungleichheit etwa seit der Jahrtausendwende noch verschärft. Stichworte sind die Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Um- bzw. Abbau des Sozialstaates und eine Steuerpolitik, die Kapital- und Gewinnsteuern senkte, um auf diese Weise die Wettbewerbssituation für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu verbessern.

Würden eine Vermögens- und eine erhöhte Erbschaftssteuer daran etwas ändern?

Es gibt viele Stellschrauben, an denen man drehen muss, um die Ungleichheit zu verringern, aber die Steuerpolitik ist eine ganz wichtige. Seit die Regierung Kohl 1996/97 entschieden hat, die Vermögensteuer nicht mehr zu erheben, weiß der Fiskus gar nicht mehr, wer wie viel besitzt. Und auch die Erbschaftsteuer für Firmenerben bleibt unter ihren Möglichkeiten. Da man inzwischen einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent Steuern zu bezahlen, läuft etwas schief. Das muss dringend geändert werden. Will man die Ungleichheit in Deutschland wirksam bekämpfen, führt auch einer Anhebung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer kein Weg vorbei.

Dazu gehört eigentlich auch, nicht – wie geplant – den Solidaritätszuschlag größtenteils abzuschaffen. Damit würden nämlich vor allem Menschen entlastet, denen es relativ gut geht. Ihn ganz abzuschaffen, wie es große Teile der Union sowie FDP und AfD fordern, würde übrigens bedeuten, hochprofitable Konzerne um einen dreistelligen Millionenbetrag zu entlasten und Großaktionäre mit riesigen Dividenden um einen zweistelligen Millionenbetrag. Ich plädiere deshalb dafür, den Solidaritätszuschlag in der bestehenden Form beizubehalten und in einen Corona-Soli umzuwandeln. So könnten die Kosten der Pandemie zumindest zum Teil aufgefangen werden.

Welche Lehren lassen sich in Sachen Ungleichheit aus der Corona-Pandemie ziehen?

Mich hat besonders erschreckt, wie viele Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein während des Lockdowns nicht in der Lage waren, die Verringerung oder gar den Wegfall ihres Einkommens zumindest für ein paar Wochen zu verkraften. Das zeigt aus meiner Sicht, dass es letztlich auf das Vermögen ankommt und dass viele Haushalte überhaupt keine Rücklagen haben. Meine Schlussfolgerung ist, dass ein großzügiger Wohlfahrtsstaat, der soziale Risiken seiner Bürger abfedert, systemrelevant ist. Der Sozialstaat hat sich in den vergangenen Monaten nicht nur bewährt, sondern auch gezeigt, wie unverzichtbar er ist. Insofern ist Corona die beste Werbung für den Wohlfahrtsstaat seit dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb halte ich Forderungen wie die des Kandidaten für den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, alle Sozialleitungen auf den Prüfstand zu stellen, für fatal.

Viele sehen in der derzeitigen Krise auch eine Chance oder gar eine „Stunde null“ für tiefgreifende Veränderungen. Welche müssten das sein, um weniger Ungleichheit in Deutschland zu erreichen?

Der pandemische Ausnahmezustand hat den Menschen wieder den Wert der Solidarität vor Augen geführt. Sie merkten, dass ihnen die Fixierung auf den Markt und die Konkurrenz in einer solchen Situation wenig nützt und eine weitere Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung vor allem des Gesundheitswesens ein Irrweg wäre. Eine zweite Lehre sollte sein, dass Applaus vom Balkon und warme Dankesworte den Beschäftigten etwa im Pflegebereich als Hohn erscheinen müssen, wenn schönen Dankesgesten kein Tarifvertrag und keine Lohnerhöhungen folgen. Von einer baldigen Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro über die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung bis zu einer Kurskorrektur in der Steuerpolitik bleibt viel zu tun, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter vertiefen soll. Mehr gesellschaftliche Solidarität statt Ellenbogenmentalität als Leitbild – das wäre eine Konsequenz aus der Pandemie, die ich mir wünsche.

Der Gesprächspartner

Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Von 1998 bis 2016 war er Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ (ISBN 978-3-89438-744-0) ist gerade im PapyRossa Verlag erschienen.

Am Montag, 21. September, stellt Butterwegge das Buch mit dem SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und dem Kölner Oberbürgermeister-Kandidaten Andreas Kossiski vor. „Wie gerecht ist Köln?“ lautet der Titel der Veranstaltung, die um 18 Uhr im „Cafe Komm Rhein“ stattfindet.

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Kommentare

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Christoff Butterwegge

Ein guter Sozialwissenschaftler, aber er wurde ja mal aus der SPD ausgeschlossen. Ich hätte ihn mir sehr gut als Bundespräsident vorstellen können . ein Mann mit sozialdemokratischen Überzeugungen, und wie so viele außerhalb der SPD.

Kleine Korrektur

Er wurde nicht ausgeschlossen, sondern ist 2005 ausgetreten: http://www.flegel-g.de/austritt.html