70 Jahre Schumann-Erklärung

Wir brauchen eine Konferenz für den Wiederaufbau und die Zukunft Europas

Iratxe Garcia PerezGaby Bischoff09. Mai 2020
Pro-Europa-Demonstrant*innen in Görlitz: Wir brauchen einen Dialog mit Bürger*innen auf Augenhöhe.
Pro-Europa-Demonstrant*innen in Görlitz: Wir brauchen einen Dialog mit Bürger*innen auf Augenhöhe.
Seit der Schumann-Erklärung vor 70 Jahren hat sich die europäische Integration beständig weiterentwickelt. Eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ soll erarbeiten, wie sich die EU verändern muss. Nach Corona muss es dabei auch um den Wiederaufbau Europas gehen.

Am heutigen 9. Mai begehen wir den 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Schuman-Erklärung, der den Grundstein für die Europäischen Union gelegt hat, wie wir sie heute kennen. An diesem Tag begann ein einzigartiges politisches Abenteuer zwischen einst miteinander verfeindeten Staaten. Deutschland und Frankreich entschieden sich durch die Zusammenlegung ihrer Kohle-und Stahlproduktion dafür, ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten. Mit dieser Initiative sollte Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent gesichert und dadurch das Leben der Bürger*innen verbessert werden. Allerdings war schon vor 70 Jahren klar, dass Europa nicht auf einmal, sondern nur durch die stetige Weiterentwicklung und das Erreichen konkreter Ziele im Geiste der Solidarität entstehen können wird.

Die EU muss Lösungen finden

Die Europäische Union steht heute vor vielen neuen Herausforderungen. Allen voran die Bewältigung der Corona-Pandemie, die von entscheidender Bedeutung ist und große Anstrengungen in allen Politikbereichen erfordert. Gleichzeitig muss die EU aber auch Lösungen finden für andere aktuelle Probleme finden: den Klimanotstand, den Anstieg sozialer Ungerechtigkeit, den digitalen Wandel und leider auch der Gefährdung der Rechtstaatlichkeit sowie einer neuen Welle populistischer und nationalistischer Strömungen in einigen Mitgliedstaaten.

Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie gab es auf EU-Ebene Bestrebungen für eine Konferenz zur Zukunft Europas, die einen Reformprozess über die weitere Entwicklung der Europäischen Union einleiten sollte. Ziel dieser Initiative war es, unter der Mitwirkung der EU-Institutionen, von Bürger*innen, Interessenvertreter*innen, der Zivilgesellschaft und Forschung konkrete Maßnahmen für die Zukunft der Europäischen Union auszuarbeiten. Heute brauchen wir diese Initiative mehr denn je! Denn wir müssen Bilanz ziehen aus dem bisherigen Krisenmanagement der Pandemie auf EU-Ebene. Daher schlagen wir vor, diese Konferenz in eine „Konferenz für den Wiederaufbau und für die Zukunft Europas“ umzubenennen.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, wie die Handlungsfähigkeit der EU in allen Bereichen gestärkt werden kann und welche Maßnahmen für diese Veränderung notwendig sind.

Eine neue Form der Bürgerbeteiligung

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass gemeinsame Herausforderungen gemeinsame Antworten erfordern. Dafür brauchen wir mehr Kompetenzen für die EU. Dies zum Beispiel im Bereich der Gesundheitspolitik, um Hilfsmaßnahmen konkret dort ergreifen und koordinieren zu können, wo diese am dringendsten benötigt werden. In Zukunft sollte die EU durch ein stärkeres Krisenabwehr- und Vorsorgemanagement und durch eine Verringerung der Abhängigkeit von Drittstaaten bei der Beschaffung von kritischen medizinischen Produkten handlungsfähiger werden. Diese Maßnahmen bilden die Grundlage für die Entstehung einer europäischen Gesundheits- und Sozialunion.

Die Liste mit Ideen zur Verbesserung der EU ist lang. Diese Entscheidungen dürfen aber nicht nur in der Brüsseler Blase gefällt werden. Als Sozialdemokrat*innen setzen wir uns dafür ein, dass die Konferenz zur Zukunft Europas eine neue Form der Bürgerbeteiligung einführt. Wir brauchen einen Dialog mit Bürger*innen auf Augenhöhe, dessen Ergebnisse in konkrete Gesetzesvorschläge umgesetzt werden.

Dafür muss es eine weite Beteiligung verschiedener Gesellschaftsgruppen geben. Sozialpartner*innen müssen einbezogen werden und Aspekte wie Geschlecht, Alter, Nationalität und sozioökonomischer Hintergrund beachtet werden. Weiterhin müssen Entscheidungsträger*innen aller politischen Ebenen, also der kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebene, eingebunden werden. Dörfer, Städte und Regionen müssen mitwirken können, denn sie müssen schließlich die Gesetze umsetzen, die wir verabschieden.

Die Krise als Chance zur Weiterentwicklung

Jean Monnet, Autor der Schuman-Erklärung, sagte: „Der Mensch akzeptiert keine Veränderungen, solange er nicht die Notwendigkeit dafür sieht, und er sieht die Notwendigkeit nicht, solange er nicht in einer Krise steckt.“ Für Monnet war jede Krise eine Chance zur Weiterentwicklung. Er hat so Recht! In den letzten 70 Jahren haben wir in der EU viel erreicht. Gleichzeitig wurden die Bedürfnisse der Bürger*innen, die für uns immer Priorität haben, im Zeitalter der Globalisierung, die von kommerziellen Interessen und neoliberaler Politik gekennzeichnet ist, vernachlässigt. Der Fokus auf Wirtschaftswachstum und globalem Wettbewerb hat dazu geführt, dass extrem wichtige Politikfelder, wie die soziale Sicherung und Gesundheitssysteme, durch das politische Handeln vernachlässigt wurden.

Es ist Zeit, die europäische Demokratie zu stärken und wieder daran zu erinnern, dass wir hier sind, um das Leben der Bürger*innen zu erleichtern, ihre Rechte zu stärken und Verbesserungen für jede*n Einzelne*n zu erreichen. Zu lange hat die EU die soziale Säule vernachlässigt. Die europäische Wirtschaftspolitik wurde oftmals nicht von sozial verträglichen Maßnahmen begleitet. Wir haben zugelassen, dass Armut und soziale Ungleichheit gestiegen sind. Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, wird sich diese Situation in dieser Pandemie noch weiter verschärfen.

Den Geist der Solidarität wiederbeleben

Als starke Europäische Union sollten wir uns aber auch nicht scheuen, Forderungen zu stellen. Dieselben multinationalen Unternehmen, die ständig innovative Wege zur Vermeidung von Steuern und sozialen Abgaben gefunden haben, wollen jetzt mit Steuergeldern gerettet werden. Natürlich müssen wir alles tun, um Unternehmen zu unterstützen und Arbeitsplätze zu sichern. Doch öffentliche Gelder dürfen nicht an solche Unternehmen fließen, die in Steueroasen registriert sind oder staatliche Zuwendungen für Dividendenzahlungen an Aktionäre nutzen.

Rettungsmaßnahmen müssen mit Verpflichtungen einhergehen. Dies sowohl zur Sicherung von Arbeitsplätzen als auch zur Umsetzung von Maßnahmen, Unternehmen entsprechend des Green Deals nachhaltiger zu gestalten. Öffentliche Gelder müssen der Gesellschaft dienen und nicht die Reichen reicher machen!

Wir müssen diese tiefgreifende Krise als Möglichkeit nutzen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Geist der Solidarität wiederzubeleben. Wenn Covid-19 uns eines gezeigt hat, dann, dass wir eine Gemeinschaft sind, die auf allen Ebenen aufeinander angewiesen ist: sowohl beim Einkauf von Lebensmitteln für alleinstehende oder kranke Nachbarn, als auch beim gemeinsamen Auftreten als EU, wenn es darum geht, medizinische Produkte auf den globalen Märkten zu beschaffen.

Unsere Prämisse des Handelns muss das sein, wofür wir einstehen: Der Aufbau einer Gemeinschaft, die sich um Menschen kümmert. Dafür braucht es aber nicht nur Worte, sondern konkrete Taten. Daher: Lasst uns die Europäische Konferenz zum Wiederaufbau und zur Zukunft Europas so schnell wie möglich beginnen.

weiterführender Artikel