
War das Feuer in dem griechischen Flüchtlingslager Moria eine Eskalation mit Ansage, Birgit Sippel?
Im Grunde ja. Wir reden spätestens seit Anfang der Pandemie darüber, dass das Lager geräumt werden muss, dass die räumlichen und insbesondere die sanitären Bedingungen unerträglich sind. Mit Corona hat sich die Lage noch verschärft, die Menschen konnten gar nicht mehr raus. Insofern war es absehbar, dass früher oder später dort so etwas in der Art passieren würde.
Die Mitgliedsstaaten hatten ja versprochen, einige wenige der Geflüchteten aufzunehmen, also vor allem unbegleitete Minderjährige und andere besonders hilfsbedürftige Menschen. Aber selbst da ist viel zu wenig passiert.
Viele Politiker*innen fordern jetzt wieder schnelle Hilfen. Glauben Sie, dass es auf EU-Ebene eine Einigung geben wird oder springen jetzt wieder einzelne Staaten ein?
Für die EU-Ebene muss man klar sagen: Das Problem liegt bei den Mitgliedstaaten. Nicht beim Europäischen Parlament oder der Kommission, sondern bei den Staaten, die zwar gerne von europäischen Werten und Solidarität untereinander sprechen, aber nicht danach handeln.
Wenn sich jetzt einzelne Länder bereit erklären würden – und seien es nur zehn – schnell 12.000 Menschen aus den Lagern herauszunehmen, dann wäre das ein erster Schritt. Diese Länder könnten dafür finanzielle Unterstützung bekommen, für die Aufnahme, für das Prüfen der Asylanträge, die Integration. Wenn man das mit der aktuellen Debatte um den kommenden EU-Haushalt verbindet, könnte man denjenigen, die sich einer solchen gemeinsamen Aufgabe entziehen, künftig weniger EU-Gelder zuteilen. Es ist aber natürlich wie immer: Es müsste jemand vorangehen.
Also Deutschland?
Deutschland kann die Probleme nicht alleine lösen. Aber als ein Land, das selbst die Herausforderungen seit 2015 gut gelöst hat, Infrastruktur, Ehrenamt und Know-How aufgebaut hat, stünde es uns gerade jetzt als Präsidentschaft gut zu Gesicht, ein gutes Beispiel auch für andere zu geben. Außerdem gibt es ja Angebote der Kommunen: Ich glaube es sind fast 170, die freiwillig angeboten haben: Wir nehmen zusätzlich Menschen auf in dieser Situation. Das wird blockiert vom Innenminister Horst Seehofer und das ist ein Unding. In diesen Kommunen gibt es die Kompetenz und die Rahmenbedingungen, um mal mit 20, mal mit 100 Geflüchteten umzugehen. Wenn man so demonstriert: Wir machen das und jetzt fordern wir das von anderen auch – dann wären wir schon ein gutes Stück weiter.
Die Idee einer „Koalition der Willigen“ Staaten gibt es ja schon länger. Muss erst so etwas wie in Moria passieren, dass auch wirklich gehandelt wird?
Es ist unerträglich wie lange schon die Mitgliedstaaten eher als Einzelne denn als Union handeln. Wenn es wenigstens jetzt klappen würde, wäre es immerhin gut. Natürlich hat die Corona-Pandemie manche Hilfe ein wenig hinausgezögert. Es wirkt mitunter aber auch wie eine Ausrede. Die Mitgliedsstaaten müssen einfach weniger wählerisch sein. Die Staaten, die Hilfe angeboten haben, waren teilweise sehr wählerisch, was Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Geflüchteten anging, die sie aufnehmen wollten. Diese Auswahl kostet viel Zeit und das können wir uns gerade in der Situation jetzt nicht leisten. Diese Rosinenpickerei muss aufhören. Das wäre auch sehr viel solidarischer gegenüber den Staaten an den Außengrenzen.
Es gibt Menschen, die davor warnen, dass solche Maßnahmen wieder rechtsextreme Kräfte stärken könnten, indem sie die Angst vor Geflüchteten schüren.
Das haben wir in den vergangenen Jahren schon oft gehört. Im Grunde sind es aber die demokratischen Kräfte, die die Rechten stärken, indem sie eben keine klare Position beziehen. So war etwa griechische Bevölkerung auf den Inseln eigentlich immer sehr gastfreundlich, auch gegenüber Geflüchteten. Aber der Eindruck, dass sie mit der Situation alleine gelassen werden und alle anderen sich einen schlanken Fuß machen, das ist ein Nährboden für rechte Kräfte.
Nein, die Staaten müssen jetzt ein klares Zeichen setzen und sagen: Ja, das ist eine Herausforderung, aber es ist keine Gefährdung und wir packen das gemeinsam an.
Wie stehen die Chancen, dass sich die EU, im Angesicht der Katastrophe in Moria, auf einen funktionierenden, stabilen Verteilungsmechanismus für Geflüchtete einigen kann?
Das wird maßgeblich auch von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen abhängen. Denn sie hatte zu Beginn ihres Mandats einen neuen Migrationspakt angekündigt. Sie wollte die Blockade der einzelnen Mitgliedsstaaten durchbrechen. Ein Jahr später liegt dieser Pakt aber immer noch nicht auf dem Tisch.
Nächste Woche hält sie eine Rede zur Lage der EU, dort könnte sie dazu etwas sagen. Sie könnte ihr Gewicht als Präsidentin noch einmal in die Waagschale werfen, klare Vorschläge machen und Erwartungen an die Mitgliedsstaaten formulieren. Ich bin gespannt, ob sie das macht.