Britischer Premierminister

Wie Boris Johnson doch noch sein Amt verlieren könnte

Paul Mason08. Juni 2022
Das Referendum in seiner Partei hat Boris Johnson knapp gewonnen. Dennoch könnte seine politische Karriere bald vorbei sein.
Das Referendum in seiner Partei hat Boris Johnson knapp gewonnen. Dennoch könnte seine politische Karriere bald vorbei sein.
Am Montag hat der britische Premierminister Boris Johnson ein Referendum seiner Partei knapp überlebt. Doch spätestens mit dem Parteitag der Konservativen im Oktober könnte seine politische Karriere enden.

Boris Johnson überlebte am 6. Juni eine Rebellion konservativer Hinterbänkler*innen, aber mit einem viel geringeren Vorsprung, als er erwartet hätte. Etwa 41 Prozent seiner Abgeordneten erklärten ihn für das Amt als ungeeignet. Die konservativ ausgerichtete Boulevardzeitung „The Sun“ sprach anschließend von der „Nacht der blonden Messer“. Johnson entkam nur deshalb einer Niederlage, weil die Konservativen zwar nach Enthüllungen über Corona-Gesetzesbrüche in Meinungsumfragen einbrechen, die rivalisierenden Fraktionen in der Partei jedoch kein klares Alternativprojekt haben.

Drei Fraktionen unter den Johnson-Gegner*innen

Sie sind eine Mischung aus extremen Brexiteers, die glauben, Johnson sollte das Nordirland-Protokoll zerreißen und eine radikale Deregulierung anstreben; sogenannte One-Nation-Conservatives, die sozialen Konservatismus mit einem paternalistischen Ansatz für soziale Gerechtigkeit verbinden; und den Überresten des pro-europäischen Flügels der Partei. Jeder von ihnen hat eine andere potentielle Führungsfigur im Sinn, aber um diese Person zu installieren, müssten sie eine große Anzahl von Abgeordneten rekrutieren, die derzeit Johnson unterstützen und auf der Gehaltsliste der Regierung stehen. Und das ist der Grund, warum er überlebt.

Doch obwohl Johnson als Sieger aus der Abstimmung hervorging und anschließend erklärte, einen Schlussstrich ziehen und sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren zu wollen, erscheint dies unmöglich. Denn schon am 23. Juni finden zwei wichtige Nachwahlen statt, die beide dadurch verursacht wurden, dass der jeweils amtierende konservative Abgeordnete in einen Sexskandal verwickelt war. In Wakefield, einer Arbeiterstadt im Norden Englands, in der bei der Wahl 2019 die Konservativen gewannen, liegt Labour in Umfragen mit einem Vorsprung von 20 Punkten vorne. Unterdessen könnten die Tories in Tiverton, einer ländlichen, traditionell konservativen Gegend im Südwesten Englands, einen Sitz an die Liberaldemokrat*innen verlieren.

Ein symbolischer Verlust droht

Gehen beide Wahlen verloren, würde das einen symbolischen Verlust für Johnson bedeuten. Denn das würde unter Beweis stellen, dass seine Unterstützung sowohl bei den wohlhabenden, traditionell Konservativen nachlässt als auch bei den ärmeren Wähler*innen, die sich wegen des Brexits den Konservativen zuwandten. Obwohl ihr Leben und ihre Kulturen unterschiedlich sind, eint beide Gruppen die Empörung, nicht nur über Gesetzesverstöße, sondern vor allem über Johnsons Lügen gegenüber dem Parlament. 

Doch die Konservativen zersplittern nicht nur und verlieren an Unterstützung. Seit sie den Brexit vollzogen haben, haben sie sowohl einen Handelsabschwung ebenso wie einen akuten Fachkräftemangel ausgelöst. Das Pfund Sterling wurde in der Folge mit der Währung eines Schwellenlandes verglichen. Sie haben weder ein einheitliches Ziel noch eine Zukunftsvision. Der Hinterbänkler Jesse Norman, der Johnson kein Vertrauen ausgesprochen hat und Teil der One-Nation-Fraktion ist, brachte das Problem in einem bitteren Offenen Brief auf den Punkt:

Johnsons Ende im Oktober?

„Unter Ihnen hat die Regierung kein Sendungsbewusstsein. Sie hat eine große Mehrheit, aber keinen langfristigen Plan... Stattdessen versuchen Sie Kampagnen zu fahren, mit ständig wechselnden Themen und schaffen politische und kulturelle Trennlinien, um diese zu Ihrem Vorteil zu nutzen.“ Da die Inflationsrate von neun Prozent die Einkommen der Mittelschicht auffrisst, wird Johnson das Problem der Unentschlossenheit und des sich treiben lassen verfolgen, bis er abgesetzt wird, höchstwahrscheinlich kurz vor oder kurz nach dem Parteitag der Konservativen im Oktober.

Johnson hat hauptsächlich durch ehrgeizige Versprechungen reagiert: Er würde die heruntergekommenen ehemaligen Industriezentren im Norden Englands „aufpolieren“. Großbritannien würde eine „Wissenschafts- und Technologie-Supermacht“ werden, als Standort für ein „Billionen-Dollar-Technologieunternehmen“. Jedes Jahr würde ein neues Atomkraftwerk entstehen. Doch nichts davon ist jemals passiert.

Kognitive Dissonanz

Obwohl die Johnson-Philosophie leicht dirigistisch ist und unzählige industrielle Pläne und Strategien entwickelt, kann die amtierende Konservative Partei – gemeinsam mit einem öffentlichen Dienst, dessen Einstellungen eng damit verbunden sind – den Marktsektor nicht effektiv lenken. Dieser ist zu schwach, dereguliert und unkoordiniert, um auf die Vorschläge der Konservativen reagieren zu können, die sich zudem immer mehr als Vorschläge statt als Anweisungen herausstellen. Und so stagniert die Wirtschaft. Um die verfallenen Reihenhäuser aus dem 19. Jahrhundert zu modernisieren, die das ehemalige industrielle Kernland bevölkern, wären massive staatliche Investitionen notwendig. Aber es gibt keine.

Um auch nur ein Atomkraftwerk fertig zu stellen – etwas, das die britische Regierung seit 20 Jahren nicht geschafft hat – wären Kapital und Arbeitskräfte notwendig, die momentan nicht verfügbar sind, und Gewinne, die nur durch staatliche Eingriffe möglich wären. Die Kraftwerke bleiben somit ein Traum. Um eine wissenschaftliche Supermacht zu werden, müsste die Regierung die Aufnahme von fortgeschrittener Mathematik in Schulen und die harten naturwissenschaftlichen Disziplinen an Universitäten massiv verbessern und eine Industriestrategie nach europäischem Vorbild auf den Weg zu bringen. Doch das tut sie nicht.

Die Wurzel des Problems ist die kognitive Dissonanz. Auch wenn der Staat im Post-Corona- und Post-Lehman-Brothers-Kapitalismus zentral wird, glauben die Konservativen weiterhin, dass staatliche Führung, Kontrolle und Eigentümerschaft die falsche Philosophie seien. Sie glauben gleichzeitig an einen lenkenden Staat und einen schwachen Staat, an niedrige Steuern und eine hohe Kreditaufnahme. Sie sind gegen Staatsschulden, aber haben mehr ausgegeben als das linke Labour-Manifest im Jahr 2019 versprochen hatte.

Verbünden sich Johnsons Gegner*innen?

Auch wenn Finanzminister Rishi Sunak zig Milliarden leiht, um neue Ausgaben und Subventionen zu finanzieren, um Haushalten bei der Bewältigung der Energieinflation zu helfen, fließt das Geld nach oben, in die Gewinne privatisierter Energieversorger, in die steigenden Mieten von Wohnungseigentümer*innen und in die unverschämt hohen Bus- und Bahnfahrpreise im privatisierten Verkehrssektor.

Ein anhaltender Einbruch in den Meinungsumfragen wird alleine nicht dafür sorgen, Johnson aus dem Weg zu räumen. Tatsächlich konzentriert sich das gesamte Regierungshandeln darauf, ihn an der Macht zu halten. Was ihn schließlich aus dem Amt bringen wird, ist, wenn sich zwei Anti-Johnson-Fraktionen aus dem reinen Überlebenswillen heraus zusammenschließen. Die natürlichen Verbündeten sind die „One-Nation-Conservatives“ und die harten Brexiteers. Ihre Hauptziele sind nicht unvereinbar, solange sie bereit sind, weiterhin Kredite aufzunehmen und Ausgaben zu tätigen, um das schwache Wachstum und die große Ungleichheit auszugleichen.

Die wahrscheinlichsten Anführerinnen für ein solches Bündnis wären Außenministerin Liz Truss oder die ehemalige Verteidigungsministerin Penny Mordaunt. Sie könnten Abgeordnete der One-Nation-Fraktion überzeugen, indem sie ihnen Zusagen zu Wohlfahrt, Einkommen und Wohnungsbau machen, aber das würde bedeuten, die Logik von Sparmaßnahmen und Deregulierung aufzugeben. Sicher ist nur, dass Johnson weiter versuchen wird, zu bluffen, zu lügen und sich aus der Patsche zu improvisieren. Es ist schwer vorstellbar, dass es für ihn einen Weg zurück zur Popularität geben wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Jonas Jordan.

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Kommentare

Boris Johnson

Es wäre schön wenn der aus der britischen Politik verschwinden würde, aber ist die neoliberale Truppe von diesem Keir Starmer irgendwo oder irgendwie eine Alternative ?
Ich erinnere mich noch ganz genau wer gefeiert hat als Jeremy Corbyn durch gewisse Machenschaften den Labourvorsitz verlor.

Boris Johnson

Das sehe ich genau so.