Lale Akguen im Interview

„Eine Blamage für Erdogan“

Michelle Schumann07. April 2009

vorwärts.de: Frau Akgün, Sie sind momentan in der Türkei.
Was für eine Stimmung herrscht bei den Menschen dort und wie beurteilt die türkische Presse den

Nato-Gipfel?

Lale Akgün: Die Stimmung für die Nato ist in der Türkei traditionell
gut, wobei es natürlich auch genügend Leute gibt, die für einen Nato-Austritt der Türkei sind und der Meinung sind, dass die Türkei in der Vergangenheit zu viele Opfer für die Nato gebracht hat.
Die größten Diskussionen anlässlich des Nato-Gipfels gab es natürlich wegen der Berufung Rasmussens zum Generalsekretär der Nato, weil er sich beim Karikaturenstreit für die Presse- und
Meinungsfreiheit eingesetzt hatte. Die verbreitete Meinung war und ist, dass Ministerpräsident Erdogan Recht habe und Stärke zeige. Es gibt aber auch Stimmen, die zwar Rasmussen als ungeeignet
für den Generalsekretärsposten halten, zugleich aber auch Erdogans Haltung als wenig konstruktiv erachten.

Was hat Ministerpräsident Erdogan mit seiner Haltung gegenüber Rasmussen bewirken wollen?

Erdogans Kalkül war: Rasmussen muss sich für seine Haltung im Karikaturenstreit bei der islamischen Welt entschuldigen, und Roj TV - ein kurdischer Sender, der aus Dänemark sendet - soll
geschlossen werden. Diese Woche reiste Rasmussen nun in die Türkei - und das ganze Land war gespannt, ob er sich entschuldigen würde. Er hat sich aber nicht entschuldigt. Und zu Roj TV sagte er,
die Entscheidung darüber liege bei den dänischen Gerichten. Eine Blamage für Erdogan.

...die Auswirkungen in der Türkei haben wird?

Im Moment ist das Thema um Rasmussen überlagert durch Obamas Besuch. Aber in den nächsten Tagen wird sich zeigen, wie Erdogan und seine Partei AKP mit der Haltung Rasmussens umgehen.

Zu den Werten der Europäischen Union gehören Meinungs- und Pressefreiheit:

Hat sich die Türkei mit dem Widerstand gegen Rasmussen als

Nato-Generalsekretär zum Sprachrohr des Islams gemacht?

Erdogan versucht sich, in der islamischen Welt als der große Integrator zu profilieren. Sein Verhalten in Davos gegenüber dem israelischen Präsidenten Perez hat Entsetzen ausgelöst - in der
islamischen Welt und seinen Anhängern wurde Erdogan als Held gefeiert. Ich glaube, mit dem Boykott Rasmussens wollte er eine Neuauflage seines "Erfolges" erzielen. Das ist aber gründlich schief
gegangen, weil Rasmussen sich natürlich nicht entschuldigt hat.

Ist so ein Verhalten nicht eher einseitig, als ausgewogen?

Eigentlich ist Erdogan stets bemüht, in der islamischen Welt eine wichtige Figur abzugeben und zugleich auch ein Ansprechpartner für den Westen zu sein. Diese "Brückenfunktion" wird ihm von
den westlichen Staaten ja auch stets abverlangt. Die Zuschreibung nimmt Erdogan gierig auf, um seine Position in der Türkei zu stabilisieren und zugleich eine Art "Vorreiterrolle" in islamischen
Ländern einzunehmen. Dabei übersehen viele - und auch Erdogan -, dass die Türkei kein islamisches Land ist, sondern ein laizistisches demokratisches Land mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung.
Das ist übrigens auch von Obama gestern in der Türkei nochmals unterstrichen worden - natürlich sehr zur Freude der Säkularen. Die Orthodoxen waren mit dieser Äußerung nicht so glücklich, wie man
sich denken kann.

US-Präsident Obama hat sich deutlich für einen Beitritt der Türkei in

die EU ausgesprochen, denn die Türkei könnte eine wichtige Mittler-Funktion

zwischen dem Westen und den arabischen Ländern übernehmen. Wie stehen Sie

einem Beitritt der Türkei gegenüber?

Ich weiß nicht, ob die Türkei eine Mittlerrolle zwischen dem Westen und den arabischen Ländern übernehmen kann, wenn sie der EU beitritt. Denn dann würde sie ohne Wenn und Aber zu Europa
gehören und die Werte der EU teilen. Eine Mittlerfunktion will auch Frankreich mit der Mittelmeerunion ausüben, und ebenso Spanien, das traditionell über hervorragende Kontakte in die arabische
Welt verfügt. Das ist also nicht der Hauptgrund für einen Beitritt der Türkei.

Sondern?

Ich persönlich bin für den EU-Beitritt der Türkei, wenn sie die Beitrittskriterien erfüllt. Die Erweiterung der Union muss Hand in Hand mit der Vertiefung gehen. Die EU muss dabei nun ihre
eigenen Interessen verfolgen und die Türkei aufnehmen, weil beide Seiten, EU und Türkei, gegenseitig profitieren würden.

Was den Wunsch der USA angeht, die EU möge die Türkei aufnehmen, so ist das kaum ausschlaggebend. Wir können den USA ja auch nicht nahelegen, die Dominikanische Republik oder einen anderen
Karibikstaat an die USA zu binden, um eine Brücke nach Südamerika zu bauen. Nein, Obamas Äußerung ist nicht entscheidend. Entscheidend sind die Interessen der EU und der Türkei, die meiner
Überzeugung beide in Richtung einer Mitgliedschaft gehen.

Wie beurteilen Sie die Politik der Türkei in den letzten Monaten: Hat es

Schritte in Richtung EU gegeben oder gibt es Anlass zur Kritik?

Der letzte Fortschrittsbericht zeigt Defizite bei der Meinungs- und Pressefreiheit, dem Schutz von Minderheiten und den Frauenrechten - hier geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um wichtige
Aspekte im Demokratisierungsprozess. Vor wenigen Wochen hat die Türkei einen neuen Verhandlungsführer für Brüssel ernannt - ich bin gespannt, ob neue Besen auch gut oder wieder besser kehren.

Dr. Lale Akgün ist 1953 in Instanbul geboren und seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sie ist
stellvertretende Vorsitzende der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung, stellvertretende migrationspolitische Sprecherin und europapolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der
SPD-Fraktion.

Interview Michelle Schumann

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