
Was ist gerecht in der heutigen Zeit?
Gerechtigkeit, die die Bürger als solche wahrnehmen und die sie dann auch honorieren, ist gegeben, wenn sie selbst teilhaben können an den meisten Entscheidungen. Das heißt, nicht Ergebnisgerechtigkeit, auch nicht Verteilungsgerechtigkeit. Das sind Versionen der Gerechtigkeit, die aber vom Maßstab abhängen, den man zur Verteilung anwendet. Gerade in einer Zeit der Transformation und der großen Verunsicherung kann das Gefühl, nicht gerecht behandelt zu werden, am ehesten bekämpft werden, wenn Bürgerinnen und Bürger zunächst mal vor allem auch auf der kommunalen Ebene, aber auch auf anderen Ebenen, wirksam an den Problemen und an den Entscheidungen teilhaben können.
Denn unpolitische Bürgerinnen und Bürger, die nicht wissen und nicht erfahren, was die Herausforderungen von Politik sind, neigen dazu, eine Behandlung zu erwarten, die möglicherweise gar nicht realistisch ist.
Was bedeutet Ungerechtigkeit für das Gemeinwesen?
Wenn die einen nicht wissen, wohin mit Geld und Eigentum und die anderen kaum wissen, wie sie bis zum Monatsende kommen sollen, dann bedeutet dies – nicht nur in materiellen Dingen und sozialer Sicherung gedacht, sondern eben auch in Lebenschancen – dass überhaupt keine Gleichheit der Chancen besteht. Wenn man im Mittelalter von Ungleichheit sprach, dann war sie akzeptiert, weil der Feudalismus keine Gleichheit vorsah. Die Demokratie geht aus dem Versprechen hervor, dass alle Menschen eine gleiche Chance haben, ihr Leben freiheitlich zu bestimmen und sinnvoll zu führen.
Ist die westliche Gesellschaft in Folge des Neoliberalismus der 1990er Jahre zu einer zunehmend ungerechteren geworden?
Ja. Die Periode, in der ökonomisch und kulturell der Staat hinter den Markt zurücktreten und der Markt im Wesentlichen die Erledigung von politischen Aufgaben und von Verteilungsaufgaben regeln sollte, hat nicht zu gleichen Chancen geführt, sondern zu immer ungleicheren Bedingungen. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass der Staat derjenige ist, der in freien Marktgesellschaften für die Überwindung von Ungleichheiten und Diskrepanzen wirkt. Wenn der Staat ins Hintertreffen gerät, dann toben sich die Diskrepanzen aus.
Wie kann die anstehende Transformation unserer Wirtschaft sich gerecht für alle entwickeln?
Diese Transformation geschieht auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen politischen Instrumenten. Auf der nationalen und auf der transnationalen Ebene ist es wichtig, dass diejenigen, die diese große Entscheidung treffen, einfach von ihrer Politik her die Ungleichheit bekämpfen. Selbst konservative Parteien oder sozialliberale Parteien, die einer anderen Programmatik folgen als sozialdemokratische, werden durch das Wähler-Votum daran erinnert.
Aber wenn man bedenkt, dass ungefähr zwei Drittel der Investitionen auf der kommunalen Ebene stattfinden und die Alltagswirklichkeit sich weitgehend dort abspielt, ist es wichtig, auf dieser Ebene die wirksame Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern auszuweiten. Wirksam heißt, dass sie nicht nur mal informiert werden sollen oder mal eine Propagandaveranstaltung bekommen, sondern dass sie sowohl in Form der verschiedenen Interessengruppen als auch der organisierten Zivilgesellschaft und aus der Wirtschaft an der langfristigen Entwicklung ihrer Kommunen teilhaben sollen. Und dass sie gemeinsam darüber beraten, wie die Aufgaben so bewältigt werden können, dass nicht rabiate Partikularinteressen sich durchsetzen, sondern dass das Ganze abgeglichen wird mit den verschiedenen Interessen.
Unsere Welt ist zunehmend global geworden. In welchem Rahmen definieren wir Gerechtigkeit? National, europäisch, international?
Gerechtigkeit ist per se grenzenlos. Man kann Gerechtigkeit nicht nur für einen Garten, für ein Dorf oder für ein Land definieren. Aber viele Menschen meinen, der Staat, der Nationalstaat und die, die darin leben, seien einem wichtiger und näher. Und nationale Regierungen haben ja zunächst mal die Aufgabe, für diesen Staat und das Territorium und die Menschen auf dem Territorium zu sorgen. Aber das ist zu kurzsichtig. Denn es rächt sich, wenn man denkt, man kann Gerechtigkeit zu sehr eingrenzen.
Gerechtigkeit ist nur erreichbar, wenn überall die politischen Entscheidungen nicht nur den gegenwärtigen und nachläufigen Generationen, sondern eben auch den auf derselben Zeitebene, aber ganz weit weg lebenden Menschen gerecht werden. Ein Verstoß dagegen war, dass auch die Sozialdemokratie in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten den Brandt‘schen Impetus, sich um den globalen Süden zu kümmern, ziemlich vernachlässigt hat, ausgenommen eine Ministerin wie Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Und mit dem Ukraine-Krieg merken wir, dass wir unser Politikverständnis mit der regelbasierten Weltordnung und unser Demokratiemodell auch nur erhalten können, wenn wir dafür glaubwürdig in anderen Teilen der Welt plädieren können, wenn wir uns gegenüber dem globalen Süden gerecht verhalten. Das tun wir aber in vielen Fällen nicht!
Gerechtigkeit ist ein Grundwert der SPD. Wo sehen Sie aktuell die Partei in der Pflicht?
Ich sehe sie in der Pflicht, Lösungen zu finden, die global für alle befriedigend sind. Aus den Fehlern zu lernen, die wir gemacht haben – auch aus Anlass der Erfahrung mit dem Ukraine-Krieg. Und das gilt ganz akut auch für die Migrations- und Integrationspolitik.
Wir müssen alle in unseren Bereichen, als Land, das immer noch sehr reich ist, unsere Verantwortung sehen. Das ist ein wichtiger Punkt für eine gerechte Politik. Aus der neoliberalen Zeit, wo der Staat im Grunde reine Dienstleistungsbehörde war, ist geblieben, dass Bürgerinnen und Bürger wie Käufer betrachtet werden, die irgendein Wahlprodukt bestellt haben und es dann auch erhalten müssen.
Das ist falsch und muss in die Irre führen. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger verantwortlich für das, was passiert. Wir können uns nicht einfach immer nur beklagen. Auch dafür ist Teilhabe so wichtig. Wenn wir nur Konsumentenbürger sind, die sagen, mir steht das und das zu, dann werden wir Gerechtigkeit nicht erfahren. Davon ist völlig unberührt, dass es natürlich Mindeststandards der sozialen Sicherheit geben muss.
Gesine Schwan ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommsion. Zwischen 1999 und 2008 war die Politikwissenschaftlerin Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin.Die Gesprächspartnerin