Das Wort „Abwanderungsprämie“ von FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper traf 2002 einen Nerv. Gemeint waren Mobilitätshilfen für Jugendliche in Regionen mit wenig Ausbildungsplätzen. Sie sollten mit finanzieller Unterstützung des Staates eine weiter entfernte Lehrstelle annehmen können. In den neuen Bundesländern sorgten diese Hilfen für erbitterte Debatten. „Abwerbeprämie für unsere Ost-Jugend“ wurden sie geschimpft.
In einer Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg trafen damals ein ostdeutscher Journalist und eine Bundestagsabgeordnete aus Thüringen aufeinander. Der Journalist befand, es müssten dort Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden, wo die Leute lebten. Iris Gleicke, die Bundestagsabgeordnete, hielt dagegen: „Ich kann doch nicht jedem, wo er lebt, einen Ausbildungsplatz versprechen.“
Inzwischen ist Iris Gleicke Parlamentarische Staatssekretärin in Sigmar Gabriels Wirtschaftsministerium und unter anderem Beauftragte für die neuen Bundesländer. An die Debatte von damals erinnert sie sich gut. „Ich habe immer gesagt: Wenn mein Sohn mal soweit ist, könnte ich ihm als Bundestagsabgeordnete eine Wohnung bezahlen, wenn er weiter weg einen Ausbildungsplatz findet. Andere, die damals schon arbeitslos waren, konnten das nicht.“ Deshalb hätten die Mobilitätshilfen Chancengleichheit auch für die jungen Leute ermöglicht, deren Eltern weniger begütert waren. Bitter sei es dennoch gewesen, dass so viele junge Leute weggegangen seien, vor allem die jungen Frauen. Denn das habe den Geburtenrückgang, der 1990 schlagartig einsetzte, radikal verschärft.
Chancen für Rückkehrer
Manfred Stolpe, ehemals Ministerpräsident von Brandenburg und danach von 2002 bis 2005 Bundesbauminister, bestätigt das: „Man hatte damals den Eindruck, dass die Zukunft der Region abwandert und nicht wiederkommen würde“, sagt er. Hätte man also mehr tun müssen, um junge Leute in den neuen Bundesländern zu halten? „Das war eine Frage des Angebots“, sagt Stolpe, vor allem des Angebots an Ausbildungsplätzen. Von denen gab es viel zu wenige, auch weil der Mittelstand nach der Wende andere Prioritäten gesetzt habe. „Für Ausbildung hatten viele noch keine Antenne. Das ist sogar jetzt noch ein bisschen mühsam.“
Trotzdem hat sich die Stimmung gewandelt. Aus dem Thema Abwanderung ist der demografische Wandel geworden, und der trifft auch die westlichen Bundesländer. Weil Not, so Stolpe, erfinderisch mache, bildeten die neuen Bundesländer mit ihren Erfahrungen so etwas wie eine Avantgarde. Das tut gut, zumal es in Ostdeutschland inzwischen wieder Zuwanderung gibt, vor allem in den Städten. Das gilt auch für Brandenburg. Zwar sei der Bevölkerungsrückgang nicht gestoppt, aber es „hat sich herumgesprochen, dass es gute Jobs in Brandenburg gibt, viel unberührte Natur und gerade an der Peripherie die Grundstückspreise sehr viel niedriger sind“, so Stolpe. Es kämen auch Leute zurück, die zehn oder 15 Jahre im Westen gearbeitet hätten, mit neuen Ideen und neuen Impulsen.
Die Brandenburger Regierung tut das ihre, um das Leben auch in ausgedünnten Regionen lebenswert zu erhalten. Stolpe nennt die wichtigsten Punkte: Mobilität und medizinische Versorgung, Bildung, Kultur und Einkaufsmöglichkeiten. Da geht man in Brandenburg auch unkonventionelle Wege. Ein Bus befördert nicht nur Menschen, sondern auch den Postzusteller, Pakete, Biolebensmittel und Blutkonserven für Apotheken. Kommunen richten Praxen für Landärzte ein. Ein Schauspieler gründet ein Theater und führt Romeo und Julia als deutsch-polnisches Liebesdrama auf. Stolpe ist stolz auf dieses Engagement seiner Brandenburger. Allen Beispielen gemein ist: Privatinitiative ist gewünscht und wird – weniger mit Geld als mit Expertise – unterstützt. Wo in Westdeutschland schon mal einige hunderttausend Euro für die Gründung eines Markttreffs fließen, gründen Brandenburger Bürger eine Kommanditgesellschaft und eröffnen einen Supermarkt wieder neu, der vor Jahren geschlossen wurde.
Ost-Probleme auch im Westen
Tatsache ist aber auch: „Noch immer haben die ostdeutschen Kommunen eine geringere Einnahmebasis als vergleichbare Kommunen im Westen“, sagt Iris Gleicke. Das gilt auch für die Bundesländer, wie der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013 erneut gezeigt hat. So betrug 2012 das Steueraufkommen der ostdeutschen Flächenländer 937 Euro je Einwohner, das der westdeutschen hingegen 1700 Euro. Wie geht es also weiter, wenn 2019 der Solidaritätszuschlag ausläuft? „Ich glaube nicht, dass man rein für Ostdeutschland keine weitere Förderung hat, sondern dass wir uns um die strukturschwachen Regionen in Ost und West kümmern müssen“, sagt Iris Gleicke.