Das war mein Einstieg in den polnischen Untergrund. Es war kein besonderer Schritt und schon gar kein romantischer. Er verlangte keine Entscheidung von mir, kein plötzliches Aufwallen von Mut
oder Abenteuerlust. Es war einfach das Ergebnis eines Besuchs bei einem guten Freund, zu dem mich hauptsächlich Verzweiflung und Ratlosigkeit getrieben hatten ...".
So lapidar beschreibt Jan Karski seinen Eintritt in den polnischen Widerstand in seinem im November 1944 in den USA erschienenen Buch "Story of a Secret State". 1948 erschien eine
französische Übersetzung. Dennoch gerieten der Autor und der polnische Untergrundstaat im Westen bald in Vergessenheit. Nun ist Karskis Buch unter dem Titel "Mein Bericht an die Welt - Geschichte
eines Staates im Untergrund" erstmals auf Deutsch erschienen.
Dienst für den Staat
Jan Kozielewski, so Karskis Geburtsname, wurde 1914 in Lodz geboren. Katholisch und patriotisch, war Karski stets bestrebt, Polen zu dienen. Nach einem Jurastudium, Militärdienst und
Studienaufenthalten in der Schweiz und England trat er 1938 in den Diplomatischen Dienst ein.
Ein geheimer Mobilmachungsbefehl beruft ihn am 23. August 1939 zu seiner Artillerieeinheit nach Oświęcim - später zu "Auschwitz" germanisiert. Hier erlebt er am 1. September den
zerstörerischen Angriff der deutschen Luftwaffe. Karskis Einheit, kaum zum Widerstand fähig, zieht sich gen Osten zurück. Bei Tarnopol gerät er mit tausenden polnischen Armeeangehörigen in die
Gefangenschaft der Roten Armee, die, dem Hitler-Stalin-Pakt folgend, von Osten in Polen einmarschiert war.
In einem ukrainischen Kriegsgefangenenlager interniert, gelangt Karski durch einen Gefangenenaustausch zurück nach Polen in ein deutsches Lager. Bei einem Transport gelingt ihm die Flucht. Er
kehrt ins zerstörte Warschau zurück, wo er durch einen Freund in den Untergrund aufgenommen wird.
Kurier des polnischen Untergrunds
Schnell wird er mit dem betraut, was er bis Kriegsende tun wird: der Verbindungsarbeit. Aus Jan Kozielewski wird der Kurier Witold, 1942 schließlich Jan Karski, ein Deckname, den er für das
Leben annimmt.
Seine Kuriertätigkeit führt ihn auf abenteuerlichen Reisen durch halb Europa, zur polnischen Exilregierung nach Angers und London und schließlich in die Vereinigten Staaten. Karski überbringt
Nachrichten und Mikrofilme zwischen verschiedenen Untergrundgruppen, Institutionen des Untergrundstaates und der polnischen Exilregierung. 1940 in der Slowakei verhaftet, von der Gestapo
gefoltert, gelingt es einer Widerstandsgruppe, ihn zu befreien.
Ein Staat im Untergrund
Denn der polnische Widerstand arbeitete nicht nur mit Sabotageakten und einer Untergrundpresse gegen die deutschen Besatzer an: Er reproduzierte einen kompletten Staat mit Regierung,
Justizwesen, politischen Parteien, Parlament und Armee im Untergrund - sogar Schulen gab es. Die Kontinuität und Autorität des polnischen Staates zu wahren, war das Ziel.
Diese polnische Einzigartigkeit darzustellen, den Widerstand eines Landes, ist Hauptanliegen von Karskis Bericht. Dabei schildert er auch die Grausamkeit der deutschen Besatzung, die
Maßnahmen zur Zwangsgermanisierug, moralischen Korrumpierung und Unterdrückung der polnischen Bevölkerung.
Augenzeuge des Holocaust
Der Kurier Karski begegnet im Sommer 1942 in Warschau zwei jüdischen Gemeindevertretern. Was er dabei von ihnen über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung erfährt, "war so entsetzlich,
dass es jede Beschreibung übersteigt".
Da Karski sich nicht nur auf bloße Schilderungen berufen will, lässt er sich ins Warschauer Getto einschleusen, um mit eigenen Augen zu sehen: Aus dem bloßen Übermittler, wird ein Augenzeuge.
Zweimal geht er ins Warschauer Getto, lässt sich zudem in der Uniform eines ukrainischen Wächters in das Todeslager Isbica Lubelska einschleusen, wo er mitansehen muss, wie tausende von Juden
grausamst ermordet werden.
Alliierte über die Vernichtung der Juden informiert
Er beschreibt der polnischen Exilregierung, dembritischen Außenminister Anthony Eden, hochrangigen Regierungs- und UNO-Vertretern sowie jüdischen Vertretern die Vernichtung. Im Juli 1943
berichtet er sogar dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt von den Geschehnissen in Polen.
Dass die Alliierten jedoch keinerlei Maßnahmen ergriffen, das Morden zu stoppen, dass man ihm teilweise gar nicht glaubte, ließ ihn verstummen. Karski wurde nach dem Krieg Dozent für
Politikwissenschaften an der Georgetown University in Washington und schwieg fortan über seine Vergangenheit. Erst für Claude Lanzmanns Film "Shoah" brach er 1981 sein Schweigen.
Karskis Bericht besticht heute durch seine dichte, durchaus literarisch gefärbte Schilderung der unmittelbar zurückliegenden Ereignisse. Mit umfangreichen Anmerkungen der Historikerin Céline
Gervais-Francelle angereichert, stellt er eine eindrucksvolle Würdigung des polnischen Untergrundstaates und seiner Akteure dar. Deren Hoffnungen auf ein eigenständiges demokratisches Polen
wurden nach Kriegsende durch die Sowjetisierung des Landes zunichte gemacht. Karskis Augenzeugenbericht über die Ermordung der polnischen Juden macht sprachlos und die Frage, wieso die
Alliierten, die darüber bereits 1943 informiert waren, nicht handelten, lässt den Leser nicht mehr los.
Jan Karski: "Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund". Aus dem englischen Originaltext und der französischen Neuausgabe von 2010 übersetzt von Franka Reinhart und
Ursel Schäfer. Herausgegeben von Céline Gervais-Francelle, Verlag Antje Kunstmann, München 2011, 624 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-88897-705-3