Pogromnacht am 9./10. November 1938

Auftakt zum planmäßigen Morden

Helmut Lölhöffel08. November 2013

Der sozialdemokratische Exil-„Vorwärts“ hat die geplante Judenvernichtung schon frühzeitig erkannt.

Unter der Überschrift „Die Schmach“ veröffentlichte der „Neue Vorwärts“ vor 75 Jahren einen ganzseitigen Beitrag, der es in sich hatte. Am 20. November 1938, zehn Tage nach dem antijüdischen Pogrom, erkannte die sozialdemokratische Zeitung, was dieser Tag bedeutete: Die Vernichtung aller in Deutschland lebenden Juden.

Der „Neue Vorwärts“ erschien damals, fünf Jahre nach dem Verbot des „Vorwärts“, zunächst in Prag und seit 1938 in Paris als „Sozialdemokratisches Wochenblatt“. Neben der „Pariser Tageszeitung“ war er die bedeutendste Emigrantenzeitung.

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Was viele Menschen noch nicht ahnten, nicht erkennen konnten oder nicht wahrhaben wollten: Der physische Massenmord an den Juden rückte mit der Pogromnacht am 9./10. November 1938 in den Bereich des Denkbaren. Daher waren  die Kernsätze aus diesem „Vorwärts“-Leitartikel mit der Unterzeile „Der Massenwahn als Kampfmittel“ nicht erst aus heutiger Sicht prophetisch – sie waren es auch damals und hätten allen die Augen öffnen können.

„Keine Hilfe ist zu erwarten“

„Die Männer des Systems“, hieß es in unmissverständlichen Worten, „haben die Vernichtung der noch in Deutschland lebenden Juden beschlossen.“ Und dann: „Denn was wirklich mit den Juden in Deutschland vor sich geht, das wagt man auch ausserhalb von Deutschland sich nicht klar vorzustellen, weil die wahrhaftige Vorstellung unerträglich wäre. Selbst die deutschen Juden wagen nicht ihr Schicksal zu Ende zu denken, weil sie nicht sterben, sondern leben wollen. Es ist deshalb keine Hilfe gegen diese schmachvolle Verfehlung zu erwarten.“

Es war nicht üblich, diesen Gedanken in aller Offenheit auszusprechen. Denn tatsächlich hatten viele der in Deutschland Lebenden und viele der ins Ausland Entkommenen verdrängt, dass die Judenverfolgung zum planmäßigen Morden führen müsste. „Viele deutsche Juden haben es nicht glauben wollen; haben sich nach jeder neuen Grausamkeit eingeredet, dass eine noch grössere Grausamkeit nun doch nicht möglich sei. Wenn dann die Nationalsozialisten in Rede und Schrift der Welt mitteilten, wie grausam sie demnächst sein würden, dann haben viele deutsche Juden das für agitatorische Übertreibungen gehalten, haben es nicht hören wollen oder schnell wieder vergessen“, schrieb Konrad Heiden in seinem 1938/39 verfassten, erst jetzt auf Deutsch erschienenen dramatischen Bericht „Eine Nacht im November 1938“.

Vier Tage später bestätigte die SS-Zeitung „Schwarzes Korps“, was der „Neue Vorwärts“ vorhergesagt hatte. Das bösartige Schundblatt gab am 24. November 1938 in einem Hetzartikel „Juden, was nun?“ die Parole aus, „Verbrecher auszurotten. Das Ergebnis wäre das endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung.“ Die Pogromnacht war, wie der Exil- „Vorwärts“ schon wusste, „die Verurteilung der Juden zum wirtschaftlichen Tode“. Eine Schmach. „Ein Massenverbrechen, an dem Handelnde und Duldende beteiligt und mitverantwortlich sind.“

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