Friedensaktivistin

Anna Haag: Die Mutter der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz

Jennifer Holleis29. Dezember 2021
Privates Glück: Anna Haag 1923 mit ihren drei Kindern Isolde, Sigrid und Rudolf
Privates Glück: Anna Haag 1923 mit ihren drei Kindern Isolde, Sigrid und Rudolf
Die Friedensaktivistin Anna Haag gelobt in ihrem Kriegstagebuch 1940, sich für ein demokratisches Deutschland einzusetzen, sofern sie überleben würde. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Artikel 4, Absatz 3 im Grundgesetz geht auf sie zurück.

Diese irregeführten deutschen Menschen! […] Wie sehr habe ich einst selbst an dieses ,Vaterland‘ geglaubt.“ Diese Zeilen schreibt die Stuttgarterin Anna Haag am 14. November 1940, in das erste von 20 schwarzen Schulbüchern, die sie bis Kriegsende mit ihren Beobachtungen und Gedanken füllt. Sie versteckt ihr fast täglich wachsendes Kriegstagebuch erst im Kohlenkeller ihres freistehenden Einfamilienhauses im Stuttgarter Viertel Sillenbuch, später vergräbt sie es in einer Blechdose auf dem Land.

Der dreifachen Mutter ist durchaus bewusst, dass sie durch ihre Aufzeichnungen mit einem Bein im Gefängnis steht. „Ein Denunziatiönchen, eine anschließende Haussuchung: und schon wäre ich meinen Kopf los!“, schreibt sie am 5. November 1942. Doch was treibt Anna Haag, eine evangelische Hausfrau und überzeugte Demokratin an, ein solch widerständisches Kriegstagebuch zu führen? Einerseits dokumentiert sie den Stuttgarter Alltag für ihre Kinder. Ihr Sohn ist in Kanada interniert, eine Tochter lebt in Birmingham. Die zweite Tochter lebt anfangs noch in der Schweiz, zieht aber wegen Eheproblemen zu den Eltern. Eine Scheidung kommt jedoch nicht in Frage, der Ehemann – ein glühender Nazi – droht, die Mutter zu verraten.

Sie ist vorsichtig, aber bleibt ihren Werten treu

Andererseits wird das Tagebuch zum Sprachrohr für Anna Haags persönliche und politische Gedanken. Am 13. September 1943 notiert sie: „Ich will vorsichtig sein, wo es angeht, aber ich will nicht zum Verräter an meinen Werten und Denken werden.“

In ihrer klaren Position gegen Hitler, und dem minutiösen Darlegen der Gespräche und Reaktionen aus der Nachbarschaft, wird das Tagebuch zum Manifest. So schreibt sie beispielsweise am 6. November 1941: „Wollen wir, müssen wir nicht unsere ganze Kraft einsetzen, um zu verhindern, dass sich das jemals wiederhole? Ich will gewiss, gewiss das Meine tun!“

Seit 1946 für die SPD im Landtag

Unmittelbar nach Kriegsende erstellt Anna Haag zusammen mit ihrem Ehemann Albert aus den 20 Tagebuchheften (mit rund 2000 Seiten) ein 500-seitiges Transkript, das Haag zur Publikation anbietet. Allerdings vergeblich, kein Verleger zeigt Interesse. So verschiebt sie das Projekt auf später, zu Gunsten ihrer politischen Karriere.

1946 wird sie für die SPD Mitglied im ersten Landtag des neu gegründeten Landes Württemberg-Baden. 1947 bringt sie den Initiativgesetzentwurf „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, ein. Bis heute ist ihr Entwurf als Artikel 4, Absatz 3, etwas erweitert im Grundgesetz der BRD: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“. 

Die Tatsache, dass Deutschland einen konstitutionellen Pazifismus verankert hat, ist Anna Haag zu verdanken, genauso wie die Tatsache, dass Millionen Männer seitdem die Möglichkeit hatten, anstelle vom Wehrdienst Zivildienst zu leisten.

Fast 40 Jahre nach ihrem Tod erscheint ihr Kriegstagebuch

Die Powerfrau engagiert sich auch gesellschaftlich. Sie gründet in Stuttgart das „Anna-Haag-Haus“, und reist vielfach nach Amerika, um die amerikanisch-deutschen Verbindungen unter Frauen aufzubauen. 1958 erhält sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Viele weitere Auszeichnungen folgen, bis sie 1982 in Stuttgart stirbt.

Fast 40 Jahre nach ihrem Tod ist ihr vorbereitetes Typoskript letzten Endes doch noch erschienen. Unter dem Titel „Denken ist heutzutage überhaupt nicht mehr in Mode“ – das Kriegstagebuch von Anna Haag, hat der Reclam Verlag das Typoskript im März 2021 veröffentlicht. Die Herausgeberin des Tagebuchs ist die Autorin dieses Artikels. 

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Kommentare

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ich will es noch einmal

versuchen, dem VORWÄRTS in besonderer Weise Dank zu sagen, für den mehr und mehr in den Hintergrund gedrängten Pazifismus hier eine Lanze zu brechen. Pazifismus steht in bester sozialdemokratischer Tradition. Das zu bemerken, ist gerade in der heutigen Zeit besonders wichtig, klingt uns doch die Kriegsrhetorik mit der russophobischen Zielrichtung ständig in den Ohren. Selbst den Vorsitzenden der Grünen sah man schon mit Stahlhelm. Da ist es doch wichtig, an Anna Haag zu erinnern, und damit den Weg zurück zur Brandtschen Friedenpolitik zu weisen. Den Friedensnobelpreis hat der gute Brandt doch nicht seiner blauen Augen wegen bekommen. Dahin müssen wir zurück, und den gegenläufigen Anstrengungen der NATO uns nachhaltig widersetzen.

Pazifismus

Pazifismus ist kein Selbstzweck, erst recht nicht für Sozialdemokraten. Sozialdemokraten brauchen keine Armee und keine Waffen um Stärke zu demonstrieren und Nachbarländern zu bedrohen und einzuschüchtern. Aber Sozialdemokraten wissen aus der jüngsten Geschichte auch, dass eine gut bewaffnete und gut ausgerüstete Armee notwendig ist um eine demokratische Gesellschaft wie die unsere vor Aggressionen und Erpressungsversuchen von totalitären Machthabern zu schützen. Wenn Sie der von einem Sozialdemokraten geführten Bundesregierung "Kriegsrhetorik mit der russophobischen Zielrichtung" unterstellen, zeigen Sie nur, wes Geistes Kind Sie sind. Vor Russen habe ich keine Angst, es sind nach eigener Erfahrung zum allergrößten Teil herzensgute und freundliche Menschen, vor denen sich niemand fürchten muss. Aber Russland wird von einem üblen Diktator beherrscht, der sich weniger um das Wohlergehen seines Volkes als vielmehr um den eigenen Machterhalt sorgt. Um die eigene Macht zu erhalten, braucht er Spannungen und Kriegs- und Bedrohungsszenarien, auch mit der NATO als Schreckgespenst. Dem schenken leider viele leichtgläubige und wenig informierte Menschen bereitwillig Glauben - wie Sie auch.

na, da schrammen Sie mal wieder

haarscharf an der Beleidigung vorbei. Aber mich überrascht das nicht, denn Sie sind ein Meister dieses Fachs.

In der Sache selbst gilt bei Ihnen- wie immer: "Im Westen nichts Neues"

Anna Haag: Die Mutter der Kriegsdienstverweigerung im GG

Es ist sehr erfreulich und begrüßenswert, dass der Vorwärts Anna Haag hier würdigt.

Sie war mir bisher leider unbekannt. Schade, dass über solch mutige Genossinnen in der Öffentlichkeit und selbst in unserer Partei so wenig berichtet wird.

Von den "Qualitätsmedien" ist diesbezüglich ohnehin wenig zu erwarten.

Deshalb bringt bitte weiterhin solche Beiträge.

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