Zukunft des Sozialstaats

Andrea Nahles: Warum der Sozialstaat eine Grundsanierung braucht

Andrea Nahles14. Dezember 2018
Andrea Nahles will den Sozialstaat grundlegend reformieren.
Arbeitnehmer auch mit geringen ­Einkommen müssen netto mehr in der Tasche haben als die Grundsicherung. Andrea Nahles will den Sozialstaat grundlegend reformieren.
Die SPD will Hartz IV hinter sich lassen und den Sozialstaat gundlegend reformieren. Eine neue Grundsicherung soll Teilhabe für alle sicherstellen. Dabei gilt: Wer sich im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligt, muss besser dastehen als jemand, der sich nicht beteiligt.

Deutschland ist ein reiches Land. Die Wirtschaft wächst, wir haben Rekordbeschäftigung und wir kommen ohne neue Schulden aus. Der Sozialstaat ist gut ausgebaut, vor allem dank der SPD. Die andere Wahrheit lautet: Obwohl wir jedes Jahr etwa eine Billion Euro für soziale Sicherung ausgeben, spüren viele Menschen den Sozialstaat nicht an ihrer Seite. Obwohl wir 200 Milliarden Euro jährlich für Familienleistungen aufwenden, sind zwei Millionen Kinder auf Grundsicherung angewiesen. Obwohl wir über 350 Milliarden Euro für die Alterssicherung aufwenden, reicht oft die Rente nicht. Und darüber hinaus empfinden viele Menschen den Sozialstaat nicht als Unterstützung, sondern als Hindernislauf.

Das alte System passt nicht mehr

Unverständliche Bescheide, unklare Zuständigkeiten und fehlende Ansprechpartner verstellen für viele den Weg, ihre Rechte auch wahrzunehmen. Zudem gibt es erhebliche Veränderungen in der Arbeitswelt, das alte System passt an vielen Stellen nicht mehr. Wir müssen den Sozialstaat wieder auf die Höhe der Zeit bringen, eine Grundsanierung ist fällig. Dies geht nur im Rahmen einer großen und zusammenhängenden Sozialstaatsreform.

Ein wesentlicher Teil davon ist die Reform des Hartz-IV-Systems. Wir müssen Hartz IV hinter uns lassen. Wir müssen eine neue Grundsicherung schaffen. Folgende Gedanken sollten uns bei der Neukonzeption der Grundsicherung leiten:

• Im Unterschied zu Grundeinkommen-Konzepten wollen wir nicht mehr, sondern weniger Leistungsempfänger – aber mehr soziale Sicherheit. Deswegen gilt es, Arbeitslosigkeit zu verhindern, bevor sie entsteht.
• Wir wollen ein Recht auf Arbeit und kein Recht auf bezahltes Nichtstun. Klar ist: Arbeitnehmer auch mit geringen ­Einkommen müssen netto mehr in der Tasche haben als die Grundsicherung.
• Eine Reform der Familienleistung muss Kinder vor Armut schützen. Wir brauchen eine eigenständige Kindergrundsicherung.
• Die Arbeitslosenversicherung muss wieder zum wichtigsten Sicherungs- und Unterstützungssystem für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden. Weiterbildung muss schon dann ansetzen, wenn Grundsicherung noch lange kein Thema ist. Mit dem Arbeitslosengeld Q liegt ein schnell umsetzbarer Vorschlag der SPD dazu vor.

Wie eine neue Grundsicherung aussehen kann

Wir sollten also die Rechtsansprüche und das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit im Sozialstaat stärken und die Grundsicherung so wieder auf ihren ursprünglichen Kern zurückführen: als soziales Netz, wenn es gar nicht anders geht. Dieses sollte man aber möglichst schnell wieder verlassen können. Wichtig ist ein tiefgreifender Mentalitätswechsel in der Grundsicherung. Bei der Gestaltung gehen wir von den Menschen aus, die Unterstützung brauchen und die dabei mitwirken wollen. Erspartes muss großzügiger geschützt werden, die angestammte Wohnung oder das Wohneigentum sollen bleiben.

Natürlich braucht eine Sozialleistung, die an letzter Stelle im System steht, immer auch Mitwirkungsregeln. Dabei gilt: Wer sich im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligt, muss besser dastehen als jemand, der sich nicht beteiligt. Das kann man zum Beispiel auch durch Bonus-Regeln schaffen. Leistungssperren jedenfalls müssen immer das letzte Mittel sein. Und das Existenzminimum eines Menschen darf niemals infrage gestellt werden.

Die neue Grundsicherung muss Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Der Sozialstaat muss einfacher und verlässlicher werden. Ansprüche müssen klar und auskömmlich sein. Rechte müssen schnell und unbürokratisch in Anspruch genommen werden können. Eine solche Sozialpolitik schafft Perspektiven und stärkt damit den sozialen Zusammenhalt in unserem Land.

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Kommentare

Sozialstaat

Es fehlt - natürlich - mal wieder die Selbstkritik, nämlich, daß die SPD wesent lich zum Schleifen des Sozialstaates begetragen hat.
Wo sind die salbungsvollen Worte der "Großen Vorsitzenden" zur Rentenprivatisierung, zur Privatisierung der Pflege, der Krankenhäuser, der Bildung.......??? Wo werden die dahinter sthenden Profitinteressen benannt und die Abkehr von diesem Irrweg gefordert ????

warum der Sozialstaat eine grundsanierung braucht,

sollte nicht der /diejenige beantworten, die/ der den Sanierungsbedürftigen Zustand hergestellt hat.

Pfusch am Bau beseitigt vorzugsweise auch nicht der Pfuscher- denn dem nimmt ja niemand mehr ab, dass er in der Lage ist, ein beanstandungsfreies Ergebnis zu erzeugen

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Grundsanierung des Sozialstaates

Die Fraktionsvorsitzende der Bundestags-SPD tut so, als sei die tonangebende neoliberale Bundes-SPD-Führung seit 1999 kollektiv in Urlaub auf dem Mars gewesen. Hartz IV/Agenda 2010 entsprang dem Denken des Schröder-Blair-Papiers und war und ist Neoliberalismus pur! Schröder/Fischer haben Hartz IV/Agenda 2010 eingeführt. Sie sind nicht allein schuld. CDU/CSU und FDP haben dies im Rahmen einer faktischen
MEGA-GROKO bis heute absolut unterstützt! Das macht es für die SPD
nicht besser. Man sollte aber bei der Wahrheit bleiben. Die Wahrheit ist:
die SPD schmiert gerade ab in tiefste Tiefen. Und sie ist selbst schuld.
Sie will nicht mehr als die Steigbügelhalterin der Merkel-CDU/der "marktkonformen Demokratie" sein. Programmatische Erneuerung findet in der SPD nicht statt. Die SPD ist gelähmt. Dabei könnte die deutsche SPD lernen. Z.B. von Bernie Sanders, USA, von Jeremy Corbyn, GB, und
auch von Jean-Luc Mélenchon. Wem der Letztgenannte zu radikal ist, kann
immer noch einen Blick werfen in das Berliner Programm der SPD von 1989. Da steht viel Vernünftiges drin. Oder noch mal lesen: Die Gerechtigkeitslücke von Ottmar Schreiner. Die Rezepte waren immer schon da. Der Wille fehlt!

Grundsanierung des Sozialstaates

Ja, Helmut, Genossen wie Ottmar Schreiner, der seinerzeit als einer der wenigen (damals sogar auch Andrea Nahles) gegen die Agenda 2010 gestimmt hatte, fehlen leider heute. Aber auch er wurde damals schon wegen seiner Aufrichtigkeit angefeindet: Franz Müntefering, der im vorauseilenden Gehorsam gegenüber Merkel zu Beginn der damaligen Groko die Rente ab 67 eingeführt hatte, wollte ihn nicht mehr auf der Landesliste absichern lassen.

Und die wenigen, die es jetzt noch gewagt haben, nicht mit den Wölfen zu heulen und der Erhöhung des Kriegsetats um über 4 Mrd. Euro (!) nicht zugestimmt haben, sind entweder ausgetreten (wie Marco Bülow) oder werden ins einflussarme EU-Parlament (Katarina Barley) weggelobt.

Diskriminierungsfreie Grundsicherung des Sozialstaates

Eine Grundsanierung des Sozialstaates muss auch bedeuten, sich von jedweder "Neuen Sozialen Marktwirtschaft" zu distanzieren, die mit dem Einsatz von Unmengen an Marketingbudgets versucht bei den wenig versierten Parlamentarier[inne]n wie auch bei der breiten Bevölkerung die Mär zu verbreiten, dass ein Staat dann sozial ist, wenn er dem wirtschaftsliberalen Sozialismus zufolge Risiken sozialisieren und Gewinne privatisieren kann.

Vor allen Dingen die deutsche Sozialdemokratie muss sich im Klaren sein, dass sie ihre Scheren im Kopf behält, wenn sie glaubt, strukturelle Verwerfungen einer Marktwirtschaft den schwächsten im Glied einer Kette durch autoritäre Maßregelung in Rechnung zu stellen. Ohne klare Abkehr vom Teilzeit- und Befristungsgesetz wie auch dem Leiharbeitsgesetz werden die Hauptpfeiler von prekarisierter Beschäftigung beibehalten werden.

Im Gegensatz dazu fehlt es an einer Meldeplicht aller internen Stellenausschreibungen sowie die gesetzliche Einführung von anonymen Bewerbungen, damit jedwede Form von Diskriminierung im Berufsleben zurückgedrängt werden kann. Unter den Umständen ist mit Hilfe von Alg Q eine Bewerbungspflicht bei Alg II Bezieher[inne]n denkbar.

Keinerlei Begründung

Der Beitrag ist derart nichtssagend, dass man ihn noch nicht mal wirklich kommentieren kann. Die genannten Ansätze ArbeitslosengeldQ, Schonvermögen, Boni statt Repressionen, Abstandsgebot zum Erwerbseinkommen, sind richtig. Dafür bedarf es aber keine "Grundsanierung des Sozialstaats" sondern einer Reform der sogenannten Hartz-Gesetze. Nicht mehr und nicht weniger!
Der geforderte "tiefgreifende Mentalitätswechsel" verstört. Was denn nun? Menschen die auch mitmachen, oder eine Grundsicherung für alle Bürger? Was soll denn alles "Grund" saniert werden? Die Rente? Steuern? Kindergeld? Pflege- und Krankenkassen? Arbeitslosengeld?
Ein solches Chaos in so einem kurzem Text. Führungsqualität sieht anders aus.

Warum der Sozialstaat eine Grundsanierung braucht

Natürlich braucht der Sozialstaat eine Grundsanierung, aber nicht in einer neoliberalen Richtung à la Merz & Co.

War Andrea Nahles nicht selbst zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales, wo es hinreichend Baustellen gab: ein Mindestlohn, der die Betroffenen nicht in die Armut führt; eine Abschaffung der sachgrundlosen Befristung; eine Rückkehrmöglichkeit in Vollarbeitszeit u.v.a.m. Und für all diese Punkte hätte es während ihrer Amtszeit noch eine Mehrheit im Bundestag gegeben.

Aber, jetzt, wo all dies nicht mehr durchsetzbar ist, heißt es, dass der Koalitionspartner nicht mitmacht.