Doch das Land am Hindukusch kommt nicht zur Ruhe, findet weder zu Ordnung noch zu Stabilität. Im September sind 23 internationale Soldaten getötet worden, von insgesamt 428 Soldaten seit
Beginn des internationalen Einsatzes vor zehn Jahren. Die Anzahl der Opfer unter den afghanischen Sicherheitskräften ist dabei ebenso unklar wie die Anzahl getöteter Zivilisten, aber sie gehen in
die Tausende.
Erst vergangene Woche haben afghanische und internationale Truppen etwa 19 Stunden benötigt, um einen Großangriff radikalislamischer Taliban-Kämpfer auf das Diplomatenviertel im Zentrum der
Hauptstadt Kabul zu beenden. Bei dem Angriff wurden vierzehn afghanische Zivilisten und Polizisten getötet sowie sechs internationale Soldaten verletzt.
Die Lage verschlechtert sich, Afghanistan kippt
Noch immer regiert Staatschef Harmid Karzai nicht über die Hauptstadt hinaus, viele Regionen werden von lokalen Herrschern von Aufständischen und Taliban kontrolliert. Auf allen Ebenen ist
Korruption weitverbreitet. Die Bevölkerung weiß nicht, wem sie vertrauen soll.
"Afghanistan ist seit Jahrhunderten Schauplatz von internationalen Interessenkonflikten," sagt Frank Hantke von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, "die nationale Ebene bleibt schwach und
es gibt zu viele dezentrale Machtzentren. Daraus erwächst die Frage für viele Afghanen, wer ist heute mein Freund oder morgen mein Feind."
War vor Jahrzehnten bereits die Sowjetunion daran gescheitert, das Land zu besetzen, scheitern nun die Vereinigten Staaten einschließlich der internationalen Einsatzkräfte. Doch ohne
Stabilität gibt es weder Demokratie noch Entwicklung. "Wir verzeichnen eine Abwendung von der Demokratie, die gleichzeitig den Nährboden für eine schleichende aber stetige 'Re-Talibanisierung' im
Lande darstellt," sagt Hantke.
Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Spreizung
Von den etwa 30 Millionen Afghanen leben noch immer etwa 40 Prozent in Armut. Ebenfalls etwa 40 Prozent sind arbeitslos - trotz reicher Bodenschätze und der zentralen Lage zwischen Asien
und Europa. "Der Lebensstandard hat sich für die meisten Afghanen nicht verbessert, die Perspektiven für die nächste Generation sind unsicher. Dabei ist die soziale Spreizung weiter
vorangeschritten," sagt Frank Hantke. Die Ziele mit denen das internationale Engagement, auch das der Bundesrepublik, gerechtfertig worden ist, sind in weite Ferne gerückt. "Zwar haben wir wieder
mehr Schulen - auch für Mädchen - aber die Ausbildung ist oft schlecht und rückständig," sagt der Vertreter der Ebert-Stiftung vor Ort. Zwischen den Fronten der Regierung in Kabul,
Stammesfürsten, Aufständischen und den Taliban wird die Bevölkerung zerrieben.
Das Vertrauen der Afghanen in die internationalen Kräfte ist verloren, die Resignation nimmt deutlich zu. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung sind jüngsten Umfragen zufolge für einen
sofortigen Abzug der internationalen Kräfte.
Bürgerkrieg und Re-Talibanisierung?
Und weil auch in den USA und bei der NATO der Rückhalt schwindet, will Präsident Obama in den kommenden Monaten entscheiden, wie viele Soldaten er abzieht. Dann stimmen die Truppensteller
der NATO-Staaten das weitere Vorgehen ab. In Deutschland wird schließlich im Kabinett und im Bundestag über die Truppenreduzierung beraten, spätestens im Januar 2012 entschieden werden. Dabei
lautet die entscheidende Frage, in welchem Umfang die afghanischen Sicherheitskräfte - also Polizei und Armee - die Führung übernehmen und das Land stabilisieren können.
Experten fürchten einen Rückfall in Bürgerkrieg und eine Re-Talibanisierung des Landes. Citha Maaß und Thomas Ruttig von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin können keine
Anzeichen für einen positiven Trend erkennen, die positiven Einschätzungen der Politik bezeichnen sie als "Zweckoptimismus."
Sie sehen vier Optionen für die afghanische Zukunft. Erstens ein Clan wie der des derzeitigen Präsidenten Karzai beherrscht das Land weiterhin und denkt dabei wenig an Demokratie und
Gerechtigkeit, dieser Clan könnte zweitens auch die Taliban miteinbeziehen - dabei wäre vorübergehend die Stabilität gesichert. Oder aber drittens die Machtrivalitäten eskalieren und es kommt
direkt zum Bürgerkrieg. Viertens könnte sich daraus schließlich ein Taliban-Emirat entwickeln.
Insgesamt keine guten Aussichten. Sicher ist, dass der Aufbau von funktionsfähigen Strukturen auf allen Ebenen vor und nach dem Abzug weiter vorangetrieben werden muss. Korruption,
Ungerechtigkeit und soziale Unsicherheit müssen Schritt für Schritt beseitigt werden. "Wir brauchen ein Aufbaumodell, das sich mehr an den afghanischen Realitäten orientiert als an vermeintlich
erfolgversprechenden Modellen von außen," sagt Frank Hantke von der FES. Dies gilt für den Aufbau aller gescheiterten Staaten. Und der ist schwieriger, teurer und unsicherer als den Abstieg zu
verhindern, denn wie sie alle war auch Afghanistan war mal prosperierend und sicher.