Der Politikwissenschaftler Tilman Fichter und der Soziologe Siegward Lönnendonker sehen in dem umstrittenen Gedicht von Günter Grass auch eine warnende Botschaft an Teheran. Von der SPD fordern sie einen Sonderparteitag zum Thema „Sicherheit und Frieden“.
Als der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak jüngst in Berlin weilte, machte er der deutschen Regierung klar, dass sich für seine Regierung in Jerusalem das “Zeitfenster“ für einen israelischen Luftschlag auf die Anlagen des iranischen Atomprogramms in den kommenden zwölf Monaten schließen werde. Im Klartext: Die Netanjahu-Regierung scheint zum “Präventivkrieg“ – so der Militärexperte der FAZ Lothar Rühl – fest entschlossen. Benjamin Netanjahu traut ganz offensichtlich der westlichen Welt kein offensives militärisches Handeln mehr zu und glaubt fest daran, dass Israel am Ende auf sich allein gestellt bleibe.
Die Zeit der Diplomatie läuft ab
Bei dieser Lageeinschätzung spielen auch die iranisch-syrische Aufrüstung der islamischen Hizbullah im Libanon und in Gaza und die militärische Unterstützung aus Teheran für die Hamas eine Rolle. Dazu komme – so Rühl Anfang April 2012 – der drohende “syrische Bürgerkrieg“, da dieser für Israel die “Gelegenheit zu einem Präventivschlag gegen den Iran“ in den letzten Wochen begünstigt habe. Die Zeit für eine diplomatische Initiative laufe aus.
Für Israel seien bunkerbrechende Bomben längst das einzig Erfolg versprechende Mittel gegen die iranischen Atomanlagen in Fordu, Natans oder Isfahan. Gegenüber dem US-Generalstabschef Martin Dempsey hat Netanjahu mitteilen lassen– so der SPIEGEL am 5. März 2012 –, dass die Israelis 12 Stunden vor einem Angriff die USA und die NATO darüber informieren würden. Barak Obama soll also zwar von einem Angriff nicht überrascht werden, aber auch keine Zeit mehr haben, um ihn noch in Frage zu stellen, eine strategische Illoyalität der jetzigen israelischen Regierung gegenüber der Garantiemacht USA.
Gedicht an den Orient
In diese Konstellation hinein platzierte Günter Grass in der Süddeutschen Zeitung sein Gedicht “Was gesagt werden muss“. Dort hieß es: “Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist“. Diese Antwort auf diese Frage bleibt Grass übrigens schuldig, sie wäre für ihn auch sehr schmerzhaft.
Was auffällt: Grass schreibt ein Gedicht, bekanntlich ein auch politisches Ausdrucksmittel in asiatischen und orientalischen Gesellschaften (Mao, Ho-Tschi-Minh), nicht jedoch hier in Europa. Adressat seiner politischen Botschaft in Versform sind also nicht (nur) die deutschen Intellektuellen und die europäische politische Elite, sondern vor allem die Orientalen, die Iraner.
Und sie kommt dort gut an, seine Botschaft, wird heiß debattiert, seine Verse sind längst im Internet ins Persische übersetzt. Seine wichtigste Message lautet, und diese Message muss man unseres Erachtens auch aus seinem Gedicht lesen: “Die Israelis können euer Volk vernichten, also passt auf und fahrt nicht weiter euren Atom(bomben?)-Kurs! Das muss gesagt werden.“ Ob Grass das bewusst einkalkuliert hat oder nicht, wissen wir nicht, aber es steht da.
Drohender Präventivkrieg
Andererseits kann man aber auch durch eine solche poetische Intervention das Unglück nicht in seinem Lauf aufhalten. Der Präventivkrieg gegen Teheran droht, auch wenn in Istanbul verhandelt wird. Unsere Freunde von der iranischen Opposition haben uns versichert, dass sie in einem solchen Fall zusammen mit den iranischen Streitkräften ihre Heimat gegen Israel verteidigen werden.
Hier ist kritisch festzuhalten: Auch schon in den letzten Jahren hat die iranische “Grüne Opposition“sich nie gegen das Atomprogramm gewandt, selbst als es unter den Verdacht geriet, die Atombombe vorzubereiten. Insofern dürfte Grass durch seine Warnung auch die Opposition im Iran provozieren.
Es fragt sich, ob die SPD angesichts dieser Konstellation heute nicht das tun müsste, was sie 1914 in einer ähnlichen Gefahr für den Frieden unterlassen hat, nämlich die Einberufung eines Sonderparteitages zum Themenkomplex “Sicherung des Friedens“ mit Rederecht für Vertreter sowohl der iranischen Opposition wie auch für die israelische Partei der Arbeit.