
Es kommt nicht oft vor, dass sich die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) einig sind. Ende Juli aber erklärten beide unisono, dass das 9-Euro--Ticket „so nicht fortgeführt werden“ kann. Zwar stünden sie voll hinter dem Anbebot, aber aus „Fürsorgepflicht für die Beschäftigten“ müsse die Notbremse gezogen werden. Lokführer, Zug-, Service- und Sicherheitspersonal hätten „ihre Belastungsgrenze erreicht und teilweise überschritten“.
Buchstäblich über Nacht war Deutschland im Sommer 2022 zum Land der Bus- und Bahnfahrer*innen geworden. Als die Ampel-Koalition nach elf Stunden nächtlicher Verhandlung Ende März ihr zweites Entlastungspaket gegen die steigenden Energiepreise vorstellte, war eine Idee dabei, die viele überraschte: Mit einer bundesweit gültigen Fahrkarte sollte der Nahverkehr im Juni, Juli und August für nur neun Euro pro Monat genutzt werden können.
Der Preis spielt nicht die wichtigste Rolle
Das kam an. Schon vor dem Start am 1. Juni wurden einige Millionen 9-Euro-Tickets verkauft. Nach drei Monaten Ende August sollten es 52 Millionen sein. Hinzu kamen rund zehn Millionen Abonnent*innen, die das 9-Euro-Ticket automatisch erhielten. Kein Wunder, dass Olaf Scholz das Ticket als „eine der besten Ideen, die wir hatten“ bezeichnet. Die Menschen fuhren aber nicht nur zur Arbeit, sondern nutzten das Ticket auch für Ausflüge, Besuche bei Verwandten oder um in den Urlaub zu fahren – viele zum ersten Mal seit langer Zeit. Die Entlastungsmaßnahme wurde so auch zu einem Stück sozialer Teilhabe. Vor allem aber zeigte das 9-Euro-Ticket, dass die Menschen den Öffentlichen Personennahverkehr nutzen, wenn das Angebot nur attraktiv genug ist.
„Wir haben gesehen: Die Menschen wollen auf Bus und Bahn umsteigen“, zieht Detlef Müller eine positive Bilanz des 9-Euro-Tickets. Der 58-Jährige fuhr selbst schon als Lokführer Dieselloks. In der SPD-Bundestagsfraktion ist er als stellvertretender Vorsitzender für die Bereiche Verkehr und Digitales zuständig. Müllers Fazit nach den drei Monaten: „Wir brauchen ein Ticket, idealerweise bundesweit, zu einem vernünftigen Preis.“
Für Müller ist dabei klar, dass das nicht neun Euro sein können. Der Preis spielt aus seiner Sicht für ein Nachfolge-Angebot aber auch nur eine untergeordnete Rolle. „Wichtiger ist, dass es einfach ist. Dass ich in den Zug einsteigen kann, ohne mir viele Gedanken über Tarifzonen oder Verkehrsverbünde zu machen.“ Das sei der große Vorteil des 9-Euro-Tickets. Zum selben Ergebnis kommt eine Erhebung des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Demnach bewerteten im August 76 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer die Einfachheit und Verständlichkeit des 9-Euro-Tickets als besonders positiv. Vor allem bei Neukunden spielte der Preis eine deutlich geringere Rolle bei der Kaufentscheidung. Immerhin 43 Prozent von ihnen nannten den Verzicht auf Autofahrten als Kaufgrund.
Positiver Effekt auf das Klima
Nach Berechnungen des VDV haben die drei Monate 9-Euro-Ticket so rund 1,8 Millionen CO2-Tonnen eingespart. „Etwa so viel wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde“, wie VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff erklärt. „Das 9-Euro-Ticket hat also nicht nur die Bürgerinnen und Bürger finanziell entlastet, sondern auch eine eindeutige positive Wirkungs fürs Klima.“ Alle „verantwortlichen Akteure“ sollten daher zügig „über die Fortsetzung und Weiterentwicklung eines solchen Angebots entscheiden“.
Das sieht auch Dorothee Martin so. „Es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich über Anschlusslösungen zu unterhalten“, sagt die verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Ein einfaches, bezahlbares Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr, das bundesweit in allen Tarifverbünden nutzbar ist, sei jedoch eine „Herkules-aufgabe“. Neben dem Bund und den -Ländern müssten nämlich auch die rund 80 regionalen Verkehrsunternehmen mit im Boot sein.
Ende August legte die SPD-Bundestagsfraktion deshalb ihre Pläne für ein 49-Euro-Ticket vor. Dieses soll ebenso wie das 9-Euro-Ticket bundesweit in Bussen und Regionalbahnen gültig sein. Bund und Länder sollen die Kosten jeweils zur Hälfte tragen. Auszubildende, Studierende und Senioren sollen nur 29 Euro zahlen. Kurz darauf nahm die Koalition das Ticket in ihr drittes Entlastungspaket auf. „Das ist ein Gamechanger in der Verkehrspolitik“, ist Dorothee Martin überzeugt. Nun allerdings seien die Bundesländer gefragt, ihren Anteil zu leisten.
„Der Bund und die Länder müssen sofort und langfristig in die Verbesserung des Angebots investieren und die notwendigen Mittel für den ÖPNV und ein sozial gerechtes Ticket garantieren“, fordert auch das „Bündnis Sozialverträgliche Mobilitätswende“, ein Zusammenschluss aus Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden. Am 5. Oktober wollen sie bei einer Veranstaltung über „das 9-Euro-Ticket als Impuls für die Mobilitätswende“ diskutieren.
Am Ende kommt es aufs Geld an
Klar ist aus Sicht des Bündnisses aber schon jetzt: „Der Bund und die Länder sind jetzt in der Pflicht, eine dauerhafte und umfassende Finanzierungsstruktur sicherzustellen.“ Die kurzfristige Verteilung von Fördermitteln reiche nicht aus. Zumal die Vorteile des 9-Euro-Tickets vor allem denen zugutegekommen sind, wo es bereits gute Bus- und Bahnverbindungen gibt, also vor allem den Menschen in Städten und Ballungsgebieten.
„Was nutzt einem ein günstiges Ticket allein, wenn der Bus nur alle zwei Stunden fährt, wenn die Anschlüsse nicht vernetzt sind oder wenn gar kein Angebot besteht?“, fragt SPD-Verkehrspolitikerin Dorothee Martin. „Wir brauchen den Ausbau in der Fläche und auf dem Land, sodass alle davon profitieren. Auch das ist soziale Gerechtigkeit.“
In ihrem Koalitionsvertrag nennen SPD, Grüne und FDP Mobilität daher auch einen „zentralen Baustein der Daseinsvorsorge“ sowie eine „Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse“ und kündigen an: „Wir wollen Länder und Kommunen in die Lage versetzen, Attraktivität und Kapazitäten des ÖPNV zu verbessern. Ziel ist, die Fahrgastzahlen des öffentlichen Verkehrs deutlich zu steigern.“ Zumindest letzteres ist mit dem 9-Euro-Ticket bereits gelungen.
„Wenn wir als Gesellschaft etwas Besseres wollen, müssen wir mehr Geld zur Verfügung stellen“, sagt SPD-Fraktionsvize Detlef Müller dazu. Mit dem 9-Euro-Ticket sei ein guter Anfang für die Verkehrswende gemacht, der nun nicht ausgebremst werden dürfe. „Am schlimmsten wäre, wenn wir jetzt drei Monate lang den Menschen ein gutes Angebot machen konnten – und dann im Oktober entweder die Preise deutlich erhöht werden oder das Angebot zusammengestrichen wird.“