Im Rückspiegel

50 Jahre Radikalenbeschluss: Als Willy Brandt irrte

Alexandra Jaeger28. Januar 2022
Umstrittene Maßnahme: Der Radikalenbeschluss vom 28. Januar 1972 zog in den folgenden Jahren viele Menschen auf die Straße.
Umstrittene Maßnahme: Der Radikalenbeschluss vom 28. Januar 1972 zog in den folgenden Jahren viele Menschen auf die Straße.
Mit dem Radikalenbeschluss am 28. Januar 1972 sollten Mitglieder „verfassungsfeindlicher“ Organisationen vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden. In der SPD war das von Anfang an umstritten.

Als die Bundesregierung unter Helmut Schmidt 1979 vom Radikalenbeschluss abrückte, hatte die Bonner Republik sieben Jahre der polarisierten Debatte über „Berufsverbote“ und „Radikale im öffentlichen Dienst“ erlebt. Mehr als eine Million sogenannter Regelanfragen hatten Behörden vor Einstellungen in den Staatsdienst an den Verfassungsschutz gestellt, zahllose Bewerber*innen waren zu ihren politischen Überzeugungen befragt und etwa eintausend Personen abgelehnt oder entlassen worden. Diese 1972 begonnene Praxis bedeutete für die SPD einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust. Zwar hatte Willy Brandt zu Beginn seiner Kanzlerschaft im Herbst 1969 versprochen, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, viele junge Menschen betrachteten den gut zwei Jahre später gefassten Radikalenbeschluss jedoch als das genaue Gegenteil dieses Versprechens.

Ein Beschluss gegen Mitglieder der DKP

Am 28. Januar 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit Bundeskanzler Brandt, Mitglieder „verfassungsfeindlicher“ Organisationen fortan vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Formal richtete sich der Beschluss, der dann in unterschiedlicher Weise in Bund und Ländern umgesetzt wurde, gegen Rechts- und Linksradikale, aber gemeint waren in erster Linie Mitglieder der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderer kommunistischer Gruppen, die im Zuge der Studierendenbewegung entstanden waren.

Bereits 1970 hatte die SPD per Unvereinbarkeitsbeschluss ihren Mitgliedern die Zusammenarbeit mit der DDR-treuen DKP verboten. Diese Abgrenzung stand in der Kontinuität einer langen Konfliktlinie zwischen Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, etwa die Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik oder die politische Verfolgung von SPD-Mitgliedern in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR. Hinzu kam eine Abgrenzung der SPD vom radikaleren Teil der „68er“.

Ein Berufsverbot für Lehrer*innen

Und so waren es nicht nur die Unionsparteien, die Zeitungen des Springer-Verlags oder der konservative Professorenverein „Bund Freiheit der Wissenschaft“, die sich für den Ausschluss von DKP-Mitgliedern aus dem öffentlichen Dienst stark machten, sondern auch sozialdemokratisch-geführte Bundesländer wie Bremen, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg, die 1971 erste Maßnahmen gegen einzelne Personen ergriffen. Mit dem Radikalenbeschluss wurde der politische Konflikt mit den Kommunist*innen gleichsam von der Partei auf die Mitglieder gelenkt. Die DKP wurde nicht – wie 1956 die KPD – verboten, aber die berufliche Existenz ihrer Mitglieder stand auf dem Spiel. Das Verbot einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst kam insbesondere für die besonders häufig betroffenen Lehrer*innen einem Berufsverbot gleich.

Nach dem Radikalenbeschluss wurden in Bund und Ländern Überprüfungsverfahren etabliert. In den 1970er und 80er Jahren wurde angefragt, angehört und abgelehnt. Wie eine Auswertung der Hamburger Überprüfungspraxis zeigt, liefen die Verfahren schematisch ab – und das Urteil stand faktisch oft schon zu Beginn fest. Ihre Ablehnung konnten Betroffene meist nur durch einen Austritt aus den „verfassungsfeindlichen“ Organisationen abwenden, Bekenntnisse zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung reichten nicht aus.

Rückblickend kritisierte auch der damalige Erste Hamburger Bürgermeister Hans-Ulrich Klose die Anhörungen als „unwürdig“ und stellte fest, es habe keine ernsthafte Einzelfallprüfung stattgefunden. Hans Koschnick, der für den SPD-Parteivorstand die Überprüfungspraxis untersuchte, kam 1978 zu einer ähnlichen Einschätzung: Die Praxis sei „ungerecht, uneinheitlich und uneffektiv“.

Helmut Schmidt hielt den Beschluss für „abwegig“

In der SPD war der Radikalenbeschluss von Beginn an umstritten: Herbert Wehner hatte davor gewarnt, Helmut Schmidt hatte ihn als „abwegig“ bezeichnet und die sozialdemokratisch regierten Bundesländer Hessen und Niedersachsen rückten – trotz ihrer Zustimmung im Januar 1972 – wenige Monate später aus verfassungsrechtlichen Gründen vorübergehend wieder von dem Beschluss ab. Zudem setzten kritische Parteitagsbeschlüsse die sozialdemokratischen Regierungen unter Druck, insbesondere ein Beschluss des Mannheimer Parteitags 1975. Hier forderte die Parteibasis, die SPD-geführten Landesregierungen sollten von der positiven Verfassungstreue der Bewerber*innen ausgehen und die Regelanfrage beim Verfassungsschutz abschaffen.

Die SPD tat sich allerdings schwer mit einer Revision der Praxis: So erklärte Willy Brandt zwar bereits 1976, er habe sich „geirrt“, und im Bundestagswahlkampf 1976 behauptete die Partei, der Radikalenbeschluss sei für sie „gegenstandslos“. In SPD-geführten Ländern wurde aber weiterhin auf Grundlage der Rechtsauslegung des Radikalenbeschlusses überprüft und abgelehnt. Erst als sich die Debatte 1978 immer weiter zuspitzte, plädierten auch führende Sozialdemokraten für eine reale Abkehr vom Radikalenbeschluss. Ein entscheidender Impuls kam dabei aus Hamburg. Hans-Ulrich Klose erklärte: „Lieber stelle ich 20 Kommunisten ein, als 200.000 junge Menschen zu verunsichern.“ Klose setzte sich nicht nur für die Abschaffung der Regelanfrage ein, sondern auch für die Einstellung zuvor abgelehnter Kommunist*innen. Ende 1978 schloss sich die Partei seiner Position an.

Anfang vom Ende in Hamburg

Die Anfang 1979 vollzogene Abkehr vom Radikalenbeschluss in den sozialdemokratisch regierten Ländern und im Bund – in den unionsregierten Ländern wurde die Praxis in den 1980er Jahren noch fortgesetzt – war eine Folge von Protesten im In- und Ausland, kritischen Medienberichten und auch eines Umdenkens in Teilen der Partei. Zudem reagierte die SPD darauf, dass sich zahlreiche linksorientierte junge Menschen von ihr abgewandt hatten, eine wachsende Staatsverdrossenheit artikulierten und sich lieber für grün-alternative Wahllisten entschieden.

Auch innerhalb der SPD traten diese generationellen Konflikte zutage: (Einstige) Juso-Vorsitzende wie Karsten Voigt, Heidemarie Wieczorek-Zeul oder Gerhard Schröder, aber auch viele andere sozialdemokratische „68er“ setzten sich für ein Ende des Radikalenbeschlusses ein. Es war kein Zufall, dass der Hamburger Senat die Liberalisierung und schließlich auch Einstellung von Kommunist*innen in den Staatsdienst unter dem Motto „Mehr Toleranz wagen“ propagierte. Denn die sozialdemokratische Abkehr vom Radikalenbeschluss kann auch als späte Einlösung der von Willy Brandt in Aussicht gestellten Toleranz gegenüber der revoltierenden Jugend der späten 1960er Jahre verstanden werden.

Kolumne des SPD-Geschichtsforums

Unter dem Titel „Im Rückspiegel“ beleuchten wechselnde Autor*innen des Geschichtsforums historische Ereignisse, die für die SPD bedeutend sind. Im Rückspiegel eines Autos sieht man bekanntlich nach hinten, aber wenn man ihn etwas kippt bzw. dreht, sieht man sich selbst. Um Vergangenheit und Gegenwart soll es in der Kolumne gehen.

weiterführender Artikel

Kommentare

50 Jahre Radikalenbeschluss I

DANK an Frau Alexandra Jaeger für diesen Artikel ohne Vorurteile.

In der Biografie "Willy Brandt 1913 - 1992 Visionär und Realist" von Peter Merseburger, DVA, 3. Auflage Oktober 2002, darf auf die Seiten 633 - 639 hingewiesen werden. Auf S. 634 heißt es: "Als Flankenschutz gegen die Volksfrontangriffe der Rechten ist auch jener Radikalenerlaß gedacht, den Brandt später als einen seiner kardinalen Fehler werten wird, denn er kostet ihn Glaubwürdigkeit bei der jungen Generation. Es ist schon fatal, wenn gerade er, der ja den größeren, nicht zu Gewalt bereiten Teil der rebellierenden Jugend in den demokratischen Prozeß integrieren will, seine Unterschrift unter jenen Erlaß setzt, der Andersdenkende mit beruflicher Repression bedroht. Wo bleibt da das große Versprechen aus der Regierungserklärung, mehr Demokratie wagen?

Was ursprünglich dazu gedacht ist, im Rahmen des deutschen Nachkriegskonzepts der wehrhaften Demokratie Verfassungsfeinde aus dem Staatsapparat fernzuhalten, führt durch deutsche Regelungswut und juristischen Perfektionswahn dazu, daß Verdächtige nicht einmal Referendare werden können."

50 Jahre Radikalenbeschluss II

S. 635:
"Der Ärger, den Brandt sich mit dem Radikalenerlaß einhandelt, ist vor allem bei befreundeten westeuropäischen Genossen groß. Als Francois Mitterrand 1976 die Gründung eines Komitees zur "Verteidigung der beruflichen und bürgerlichen Rechte in der Bundesrepublik Deutschland" ankündigt, schreibt Brandt ihm erzürnt (...). Um die gleiche Zeit fragt die Vorsitzende der Sozialistischen Partei Luxemburgs, Lydie Schmid, wo die deutschen Sozialdemokraten denn stünden - ob sie etwa einen Staat der Bespitzelungen, Verdächtigungen und ausgehöhlter Verfassungsrechte wollten. "Gerade dies nicht", antwortet der SPD-Chef und weist daraufhin, daß die Ministerpräsidenten seiner Partei den Beschluß nicht mehr als Grundlage ihrer Verfahrenspraxis in den einzelnen Bundesländern heranziehen. Mit allzu vielen unsinnigen Folgen des Beschlusses konfrontiert, hat die SPD in der Tat einen späten Kurswechsel vorgenommen."
Dieser Radikalenerlass ist absolut kein Ruhmesblatt für Willy Brandt und die SPD. Willy Brandt hatte später die Kraft, seinen kardinalen Fehler einzusehen und zu bekennen. Aber viele berufliche Karrieren und persönliche Reputationen sind diesem unseligen Erlass zum Opfer gefallen!

„mehr Demokratie wagen“

Mit Kommunisten kann man ebenso wenig „mehr Demokratie wagen“ wie mit Faschisten, unsere Partei und viele ihrer Mitglieder haben das in ihrer Geschichte bitter erfahren müssen. In sofern war der Radikalenerlass richtig und nachvollziehbar. Ob er jedoch geeignet war, junge Menschen, die politisch weitgehend ungebildet waren und auf ideologische Heilslehren herein gefallen waren, auf den demokratischen Weg zurück zu führen, ist fraglich.

politisch weitgehend ungebildet

Sie irren gewaltig Herr Frey. Sehr viele dieser jungen Menschen waren politisch hochgebildet.

Menschen waren politisch hochgebildet.

Als ich in den 70iger Jahren studierte habe ich mich bei einer heftigen Diskussion mit Kommilitonen, die dem KBW und der KPD/ML angehörten, als Sozialdemokrat geoutet. Es ging um einen geplanten Streikaufruf, der mich ein Semester gekostet hätte. Einer Ihrer "hochgebildeten jungen Menschen" schleuderte mir daraufhin entgegen: "Du bist ja ein Arbeiterverräter, du bekommst als erster einen Genickschuss". Seine Genossen fanden das in Ordnung, sie hatten schließlich alle die Schriften von Mao, Trotzki, Stalin und anderen Massenmördern gründlich gelesen und wussten daher, wie man mit Klassenfeinden umzugehen hat. Außerdem war es die Blütezeit der RAF. Merke: Viele Bücher gelesen zu haben, macht allein noch keine Bildung aus, zumindest nicht für mich.

"Du bist ja ein Arbeiterverräter, ..."

Das was Ihnen, Herr Frey, da zugerufen wurde/geschehen ist, ist natürlich - heute würde man sagen - absoluter Bullshit. Es ist völlig unsagbar und zeugt von politischer Totalverblödung und nicht hinnehmbarer verbaler Rohheit derjenigen, die dies geäußert haben.

Gleichwohl ist mir Ihre pauschale Gleichsetzung von Kommunisten und Faschisten absolut zu undifferenziert. Das könnte man jetzt "buchweise" stunden- und tagelang begründen/erörtern/diskutieren. Will ich aber nicht (und hier kann dafür auch kein Platz sein). Denn Ihr letzter Satz stimmt natürlich in gewisser Weise: "Viele Bücher gelesen zu haben, macht allein noch keine Bildung aus." Insoweit gibt es keine zwei Meinungen.

Es darf aber z.B. daran erinnert werden, dass nicht nur in den Konzentrationslagern neben Juden, Sinti und Roma und anderen, gerade Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam unter der Nazibarbarei - also unter Faschisten - allerschwerst gelitten haben und zu Tode gekommen sind. Es ist nicht selten vorgekommen, dass nach der Befreiung aus den KZ's die überlebenden Kommunisten und Sozialdemokraten und auch Mitglieder des Zentrums sich lebenslang mit großem menschlichen Respekt begegnet sind.

Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam unter der Nazibarbare

Diese Geschichten erzählen gerne die Mitglieder der SED/DIE LINKE. Die wahren Geschichten von den Sozialdemokranten, die erst bei den braunen Faschisten in Zuchthaus und KZ saßen und bald danach in den Zuchthäusern der roten Faschisten (Kurt Schuhmacher) wollen sie dann nicht hören. Demokratisch und menschlich geben sich Kommunisten nur wenn sie nicht an der Macht sind.

Zu Richard Frey Kommunisten und Sozialdemokraten

Herr Frey, Ihr Verständnis ist absolut eindimensional. Und Sie wollen dies auch so. Zu Kurt Schumacher: Er verstarb 1952. Ein Jahr vor Stalin. Schumacher hatte zeitlebens (politisch) in der faktisch maßgeblichen Auswirkung mit dem Stalinismus zu tun. Insofern ist Schumachers Wort von den "rotlackierten Faschisten" plausibel. Aber Kommunismus und Stalinismus sind nicht deckungsgleich. Und schon gar nicht sind Marxismus und Stalinismus deckungsgleich.

Im Übrigen: Peter Merseburger's Biografie zu Kurt Schumacher "Kurt Schumacher Patriot, Volkstribun, Sozialdemokrat", September 2010, Pantheon, kann ich nur empfehlen. Sie zeigt, dass das Verhältnis zwischen
Marxisten, Leninisten, Stalinisten,Trotzkisten, Unabhänigigen Sozialdemokraten, Mehrheits-Sozialdemokraten, Spartakisten - sowohl in den politischen Strömungen als auch zwischen den Hauptprotagonisten hochkomplex war.
NUR "Schwarz und Weiß" gab es nie und gibt es nie.

50 Jahre Radikalenbeschluss III

Ich darf hinweisen auf:
https://www.ossietzky.net/artikel/demokratiegefaehrder/
An diesem Fehler, diesem Irrtum von Willy Brandt gibt es nichts zu deuteln. Gar nichts. Aber: Willy Brandt hat für sich nie einen Heiligenstatus reklamiert. Er hielt sich nie für unfehlbar. Er war ein Mensch - kein Über-Mensch. Gesamtpolitisch und weltpolitisch gesehen war Willy Brandt der wichtigste und bedeutendste deutsche Politiker der Nachkriegszeit (2. Weltkrieg). Er steht insgesamt in einer Reihe mit Nelson Mandela, Dr. Martin Luther King, Bischof Desmond Tutu. Es ist sein Gesamtbild und seine Gesamtperson als: Regierender Bürgermeister von Berlin, Außenminister, Bundeskanzler, SPD-Parteivorsitzender, entscheidender/maßgeblichster Ostpolitiker (mit Egon Bahr) im 'Wandel durch Annäherung', Friedensnobelpreisträger, Präsident der Sozialistischen Internationale, Chef der Nord-Süd-Kommission. Willy Brandt ist durch seine Ostpolitik insgesamt der Vater der Deutschen Einheit. Helmut Kohl war der Kanzler der Deutschen Einheit. Zweifellos!. Aber die Saat der Deutschen Einheit hat Willy Brandt in die Erde gebracht. Willy Brandt konnte ohne jede eigene Schuld für den Holocaust um Verzeihung bitten.

ja, der Radikalenerlass,

ein langer Schatten, der da auf die sonst demokratischen Parteien der damaligen Bundesregierung fällt , da gibt es keinen Zweifel, vielleicht ein Rest aus der dunkelsten Historie der Linksparteien, der sich damals Bahn brechen konnte. Andererseits ist es keine geistige Herausforderung, vom warmen wie trockenen Platz aus zu Urteilen über Menschen, die handeln mussten. Wer nichts macht, macht keinen Fehler? Weit gefehlt.