
Vor den bevorstehenden Tarifverhandlungen in der Industrie ist Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf aktuell auf einem ganz besonderen Pfad unterwegs: Er fordert, das Renteneintrittsalter langfristig auf 70 Jahre anzuheben, rief Gewerkschaften dazu auf, in der jetzigen Situation „Verzicht zu üben“. Und den Vorschlag seines Kollegen beim Bund der Deutschen Industrie, Siegfrid Russwurm, unterstützt er auch: eine höhere Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden.
Realitätsferne Debatte
Aus dem Mund von Wolf klingt das so: „Wir werden länger und mehr arbeiten müssen.“ Sonst sei das Rentensystem mittelfristig nicht mehr finanzierbar. Das klingt wie eine nüchterne, pragmatische Schlussfolgerung. Am Ende ist es aber eine erstaunlich unkreative Antwort und überhaupt gar keine Lösung der Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und zwar aus drei Gründen.
Erstens: Deutschland leidet unter einem Fachkräftemangel. Das dürften wohl auch Wolf und Russwurm unterschreiben. Aus einer anderen Perspektive betrachtet heißt das: Die Fachkräfte, die es gibt, sind in vielen Branchen in Deutschland sehr begehrt. Dass ausgerechnet diese Menschen bei der Aussicht, länger arbeiten zu müssen, jubelnd in die Hände klatschen, ist zumindest fraglich. Mit gutem Gehalt, guten Arbeitsbedingungen und Wertschätzung der wertvollen Mitarbeiter*innen haben solche Überlegungen jedenfalls wenig zu tun.
Zweitens: 42 Arbeitsstunden pro Woche lautet der Vorschlag. Tatsache ist allerdings: Für 4,5 Millionen Arbeitnehmer*innen gehören Überstunden sowieso schon zum Alltag. Das sind laut Statistischem Bundesamt rund 12 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, also fast jede achte Person. Und die leisten in der Mehrheit zwischen fünf und zehn Überstunden – pro Woche. Für rund ein Fünftel waren diese Überstunden außerdem unbezahlt.
Die Realität ist also: Viele arbeiten regelmäßig mehr als vereinbart, einige davon sogar ohne dafür mehr zu bekommen. Das ist ungerecht. In den Ohren dieser Personen muss eine höhere reguläre Arbeitszeit wie blanker Hohn klingen. Zumal ja die Skala nach oben offen ist, solange der Trend in der Demografie in Deutschland anhält und wir im Schnitt immer älter werden. Wenn länger arbeiten die Antwort auf die Frage ist, wie wir die deutschen Sozialsysteme retten, dann folgt auf die 42-Stunden-Woche vielleicht auch bald die 45-Stunden-Woche.
Drittens: Andere Länder in Europa führen die Diskussion um die Arbeitszeiten genau andersrum: In Spanien, Belgien, Schottland und Irland wird die Vier-Tage-Woche erprobt, Schweden experimentiert mit dem Sechs-Stunden-Arbeitstag. Es dürfte klar sein, wohin sich qualifiziertes Fachpersonal in Zukunft orientieren dürfte, wenn parallel dazu in Deutschland über ein höheres Renteneintrittsalter und längere Arbeitszeiten diskutiert wird. Attraktiver wird es den Arbeitsmarkt hierzulande jedenfalls nicht für Arbeitskräfte aus dem Ausland machen. Genau die braucht es aber, wie Arbeitsmarktforscher*innen jüngst berechnet haben. Auch die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, sieht die Integration ausländischer Fachkräfte als eine große Baustelle.
Richtige Beobachtung, falscher Lösungsvorschlag
Nur eine Sache kann man dem Vorschlag zugute halten: Dass die Rentenkasse, auch bedingt durch den demografischen Wandel, in einer Schieflage ist, stimmt. Diese Schieflage aber korrigieren zu wollen, indem Menschen einfach länger und länger arbeiten sollen, zeugt schon von einer erstaunlichen Engstirnigkeit. Erst Recht, wenn man einmal über den Tellerrand schaut und in den Blick nimmt, welche Arbeitsbedingungen andere Länder bieten. Der Gesamtmetall-Präsident hingegen will offenbar lieber die Auswirkungen des Fachkräftemangels kaschieren, als das eigentliche Problem anzupacken.
Und selbst das dürfte in manchen Branchen gar nicht klappen: Wenn Krankenpfleger*innen oder Handwerker*innen auf dem Papier zwar länger arbeiten sollen, in der Realität das Renteneintrittsalter aber oft gar nicht erreichen, weil sie krankheitsbedingt früher ausfallen, ist niemandem geholfen.
Und dann ist der Vorschlag von Stefan Wolf eigentlich nur eines: Eine Rentenkürzung für diejenigen, die früher aus dem Berufsleben ausscheiden müssen, weil sie nicht mehr können.