Symptombehandlung statt Ursachenforschung

42-Stunden-Woche, Rente ab 70: Diese Forderungen lösen kein Problem

Benedikt Dittrich01. August 2022
Ob manche Handwerker*innen bei einer 42-Stunden-Woche überhaupt das Renteneintrittsalter erreichen, ist fraglich.
Ob manche Handwerker*innen bei einer 42-Stunden-Woche überhaupt das Renteneintrittsalter erreichen, ist fraglich.
„Wir werden länger und mehr arbeiten müssen“, davon sind Arbeitgeber wie Stefan Wolf überzeugt. Rente erst ab 70, 42-Stunden-Woche, das fordert der Gesamtmetall-Präsident. Was für ein realitätsferner, unkreativer und nutzloser Vorschlag!

Vor den bevorstehenden Tarifverhandlungen in der Industrie ist Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf aktuell auf einem ganz besonderen Pfad unterwegs: Er fordert, das Renteneintrittsalter langfristig auf 70 Jahre anzuheben, rief Gewerkschaften dazu auf, in der jetzigen Situation „Verzicht zu üben“. Und den Vorschlag seines Kollegen beim Bund der Deutschen Industrie, Siegfrid Russwurm, unterstützt er auch: eine höhere Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden.

Realitätsferne Debatte

Aus dem Mund von Wolf klingt das so: „Wir werden länger und mehr arbeiten müssen.“ Sonst sei das Rentensystem mittelfristig nicht mehr finanzierbar. Das klingt wie eine nüchterne, pragmatische Schlussfolgerung. Am Ende ist es aber eine erstaunlich unkreative Antwort und überhaupt gar keine Lösung der Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und zwar aus drei Gründen.

Erstens: Deutschland leidet unter einem Fachkräftemangel. Das dürften wohl auch Wolf und Russwurm unterschreiben. Aus einer anderen Perspektive betrachtet heißt das: Die Fachkräfte, die es gibt, sind in vielen Branchen in Deutschland sehr begehrt. Dass ausgerechnet diese Menschen bei der Aussicht, länger arbeiten zu müssen, jubelnd in die Hände klatschen, ist zumindest fraglich. Mit gutem Gehalt, guten Arbeitsbedingungen und Wertschätzung der wertvollen Mitarbeiter*innen haben solche Überlegungen jedenfalls wenig zu tun.

Zweitens: 42 Arbeitsstunden pro Woche lautet der Vorschlag. Tatsache ist allerdings: Für 4,5 Millionen Arbeitnehmer*innen gehören Überstunden sowieso schon zum Alltag. Das sind laut Statistischem Bundesamt rund 12 Prozent der arbeitenden Bevölkerung, also fast jede achte Person. Und die leisten in der Mehrheit zwischen fünf und zehn Überstunden – pro Woche. Für rund ein Fünftel waren diese Überstunden außerdem unbezahlt.

Die Realität ist also: Viele arbeiten regelmäßig mehr als vereinbart, einige davon sogar ohne dafür mehr zu bekommen. Das ist ungerecht. In den Ohren dieser Personen muss eine höhere reguläre Arbeitszeit wie blanker Hohn klingen. Zumal ja die Skala nach oben offen ist, solange der Trend in der Demografie in Deutschland anhält und wir im Schnitt immer älter werden. Wenn länger arbeiten die Antwort auf die Frage ist, wie wir die deutschen Sozialsysteme retten, dann folgt auf die 42-Stunden-Woche vielleicht auch bald die 45-Stunden-Woche.

Drittens: Andere Länder in Europa führen die Diskussion um die Arbeitszeiten genau andersrum: In Spanien, Belgien, Schottland und Irland wird die Vier-Tage-Woche erprobt, Schweden experimentiert mit dem Sechs-Stunden-Arbeitstag. Es dürfte klar sein, wohin sich qualifiziertes Fachpersonal in Zukunft orientieren dürfte, wenn parallel dazu in Deutschland über ein höheres Renteneintrittsalter und längere Arbeitszeiten diskutiert wird. Attraktiver wird es den Arbeitsmarkt hierzulande jedenfalls nicht für Arbeitskräfte aus dem Ausland machen. Genau die braucht es aber, wie Arbeitsmarktforscher*innen jüngst berechnet haben. Auch die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, sieht die Integration ausländischer Fachkräfte als eine große Baustelle.

Richtige Beobachtung, falscher Lösungsvorschlag

Nur eine Sache kann man dem Vorschlag zugute halten: Dass die Rentenkasse, auch bedingt durch den demografischen Wandel, in einer Schieflage ist, stimmt. Diese Schieflage aber korrigieren zu wollen, indem Menschen einfach länger und länger arbeiten sollen, zeugt schon von einer erstaunlichen Engstirnigkeit. Erst Recht, wenn man einmal über den Tellerrand schaut und in den Blick nimmt, welche Arbeitsbedingungen andere Länder bieten. Der Gesamtmetall-Präsident hingegen will offenbar lieber die Auswirkungen des Fachkräftemangels kaschieren, als das eigentliche Problem anzupacken.

Und selbst das dürfte in manchen Branchen gar nicht klappen: Wenn Krankenpfleger*innen oder Handwerker*innen auf dem Papier zwar länger arbeiten sollen, in der Realität das Renteneintrittsalter aber oft gar nicht erreichen, weil sie krankheitsbedingt früher ausfallen, ist niemandem geholfen.

Und dann ist der Vorschlag von Stefan Wolf eigentlich nur eines: Eine Rentenkürzung für diejenigen, die früher aus dem Berufsleben ausscheiden müssen, weil sie nicht mehr können.

weiterführender Artikel

Kommentare

einmal mehr wird festgestellt, was das Problem nicht löst, dabei

wäre es hilfreich, wenn auch mal jemand eine Idee vortragen würde, in Bezug auf Dinge, die das Problem lösen würden. Ich würde es schon für hilfreich halten, wenn man der Zwangsverrentung einen Riegel vorschieben würde, und es den Menschen nach Erreichen der Regelaltersgrenze freistellen würde, die Arbeit fortzusetzen, so wie ja auch im Parlament recht viele Leute sitzen, die das Rentenalter bereits überschritten haben. Ich darf nicht weiterarbeiten, sondern werde zwangspensioniert. Ich will das nicht, aber der fürsorgliche Staat meint, die sei besser für mich- und der Staat- bzw die ihn repräsentierenden Abgeordneten wissen es sicher besser und meint es auch nur gut mit mir. Besser, ich lasse den Staat für mich agieren, und begebe mich in eine selbstverschuldete Unmündigkeit des betreuten Lebens. Die zu überwinden war die größte Fehlleistung der Aufklärung, aber es wird ja schon massiv daran gearbeitet, diese Fehlentwicklung zu korrigieren

Deutscher Arbeitsmarkt für Fachpersonal unattraktiv

Willy Brandt lobte im Frühjahr 1973 die Leistungen ausländischer Arbeitskräfte und beschloss dann angesichts steigender Arbeitslosigkeit Ende 1973 einen Anwerbestopp für Arbeitskräfte aus Nicht-EWG-Staaten. Der damals schon einsetzende massenhafte Zuzug in die deutschen Sozialysteme wurde bis heute nicht nur nicht gestoppt, sondern noch gesteigert. Die daraus entstehenden Belastungen machten und machen den deutschen Arbeitsmarkt für Fachpersonal unattraktiv, mit der Folge, dass mehr und mehr Deutsche das Land verliessen und verlassen. Früher schon wurden zuwenig Fachleute dual ausgebildet, heute müsste man sie über Fachschulen ausbilden. Mit der Agenda 2010 und dem SGB II aber senkten SPD&Grüne massiv die Löhne in Deutschland und verweigerten den ins SGB II geschobenen Bürgern die berufliche Fortbildung. Die Lösung wäre natürlich, die Bürger zu qualifizieren und die deutsche Wirtschaft noch mehr zu mechanisieren, zu maschinisieren, zu automatisieren und zu 'digitalisieren' (kybernetische Selbststeuerung), so dass wir auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig bleiben und besser werden. Fachpersonal ab einer bestimmten Gehaltsstufe hat schon seit Jahrzehnten eine höhere Wochenarbeitszeit.

ja, die Qualifikattion all derer, die unzureichend qualifiziert

sind, dass ist mal eine Aufgabe. Aber hier muss zunächst einmal vermittelt werden, dass es sich lohnt, zu lernen. daran mangelt es augenscheinlich, denn ein gutes Leben (nach dem Maßstab derjenigen, die es leben) lässt erkennbar auch mit dem Leben auf Kosten der Gesellschaft führen. Wäre dies anders, so hätte Bildung einen anderen Stellenwert in weiten Teilen der Gesellschaft.
Abgesehen davon ist Deutschland für qualifizierte Zuwanderer auch deshalb wenig attraktiv, weil es an Wohnraum mangelt. Wir bringen ja schon wieder Zuwanderer in Zelten unter- so derzeit in Berlin- da wollen wir andere, solche die qualifiziert sind- dazu bewegen, sich hier bei uns anzusiedeln?. Ich würde auch nicht kommen

Politik ist gefragt

Immer wieder kommen solche Vorschläge, meist gepaart mit weiteren Rentenkürzungen und -privatisierungen von der "Arbeitgeberseite". In Anbetracht der Millionen Arbeitssuchenden und Arbeitswilligen, Minijobber etc. eine Verhöhnung der Menschen. Gibt es denn irgendwann mal eine/n SOZIALDEMOKRATISCHE/N Politiker/in derdiedas diesem Geschwätz einfürallemal Paroli bietet?

Basta, beschlossen und verkündet,

wer arbeitslos ist, ist immer auch arbeitswillig, so dass die Probleme, Hilfsarbeiter zum Beispiel beim Gepäcktransport auf Flughäfen zu finden, als FAKE NEWS entlarvt sind

@ Beitrag von Armin Christ 2. August 2022 - 18:06

Es gab einst Sozialdemokraten und sozialdemokratische Politiker, die die Dinge beim Namen nannten. H. Schmidt sagte u.a.: Wer Fachkräfte braucht, soll welche ausbilden. Seit 1998 werden in der SPD vielfach die Propagandabegriffe der Laissez-faire-Wirtschaftsliberalen hergebetet (Überalterung der Gesellschaft, Fachkräftemangel, Einwanderung ...).

Auch in der SPD wird schon gar nicht mehr gefragt, warum es denn in Deutschland bei gegenwärtig ca. 3 Mio. Studenten nicht eine ausreichende Anzahl an Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und anderen Fachleuten gibt.

Man müsste sich dann nämlich mit der unangenehmen Tatsache befassen, dass einerseits gar nicht so viele Fachkräfte gebraucht werden und man mit dieser Propaganda [Fachkräftemangel] lediglich die Gehälter drücken will und andererseits es etliche Studenten gibt, die "irgendetwas" mit Medien, Politik ... studieren.

Das ist der Luxus, den man sich in Deutschland tatsächlich leistet, und zwar schon eine geraume Zeit lang. Darüber wird beharrlich geschwiegen. Möglicherweise auch deshalb, weil der bisherige massenhafte Zuzug in die deutschen Sozialsysteme und Schulen verheerende Auswirkungen auf das Niveau hatte und hat.

Keinen Plan

Ich kann dem Geschriebenen nur zustimmen. Ergänzend muss ich aber sagen, daß es schon bei der Ausbildung von Lehrkräften hapert. Als gelernter Diplom Biochemiker unterrichte ich zur Zeit Biologie und Chemie und es freut mich immer wenn ich ene/n meiner Schüler/innen für Naturwissenschaften begeistern kann; leider denken Schüler**, daß sogenannte geisteswissenschaftliche Fächer leichter wären, weil es da aussreicht auswendig zu lernen. Naturwissenschaften verlangen mehr logisches Denken, auch über den Fachhorizont hinaus, denn auch ihr Wirken findet in einem gesellschaftlichen Umfeld statt (Kernkraftdebatte, Klimawandel, Pharma samt profiten, Agrargifte ......).

Der Satz von Helmut Schmidt ist absolut richtig: Mich wundert, daß ich Aussagen von Politikern, die ich in meiner JuSo-Zeit nur bedingt unterstützte, mittlerweile für sehr gut halte. Dabei denke ich nicht, daß ich reformistisch geworden wäre, denn die derzeitige Situation erfordert revolutionäre Maßnahmen.

genau das ist der Ursprung der Redewendung

"wer mit 20 Jahren kein Revolutionär ist, hat kein Herz, wer mit 40 Jahren noch Revolutionär ist, hat keinen Verstand"